Diva mit Gespür
Herthas Trainerkandidat Lucien Favre gilt als akribischer Fachmann
VON MICHAEL JAHN
BERLIN. Es war Ende der 90er- Jahre, als sich der kleine Fußballklub Yverdon Sports FC einen bekannten Mann als Trainer leistete. Der Zweitligaverein aus der französischen Schweiz verpflichtete den ehemaligen Nationalspieler Lucien Favre. Der trug auf dem Platz viele Jahre stolz die Nummer 10 und brachte es durch sein intelligentes Spiel zu großer Popularität.
Yverdon war Favres erste wichtige Station als Trainer und dort bekam er damals alle Freiheiten eingeräumt. Favre, so heißt es, habe nach nur sechs Monaten 14 von 18 Spielern ausgewechselt und die nahezu neue Mannschaft nach einem Übergangsjahr in die Schweizer Nationalliga geführt - mit zauberhaftem Fußball, wie die Chronisten schrieben. Es ist zu hoffen, dass die Verantwortlichen von Berlins Bundesligisten Hertha BSC auch diese kleine Episode aus der Vita des Schweizer Meistermachers kennen - damit sie wissen, auf wen und auf was sie sich einlassen, sollten sie Lucien Favre (49) als neuen Cheftrainer ab Juni 2007 verpflichten.
Fasst man alle Informationen zusammen, kann es sich nur noch um wenige Stunden handeln, bis Hertha BSC die Trainerfrage entscheidet. Die Verhandlungen mit Favre sollen laufen. Favre, der zweimal in Serie den FC Zürich zum Meistertitel führte, besitzt aber einen Vertrag bis 2008, der sich um ein Jahr verlängert, sollte der FC im Herbst die Gruppenphase der Champions League erreichen. Der Schweizer Titelträger muss in die dritte Runde der Qualifikation einsteigen. Der Reiz, sich in der Königsklasse präsentieren zu können, sollte für einen Verbleib von Favre in seiner Heimat sprechen, aber bei Hertha BSC heißt es inzwischen, man habe das Gefühl, Favre sei bereit für einen Wechsel in die sportlich reizvollere Bundesliga.
Fredy Bickel, der Sportchef des FC Zürich, geht dagegen vom Verbleib Favres in Zürich aus. Er habe gerade erst mit dem Trainer über die Zukunft der FC-Mannschaft gesprochen. Favre, der durchaus als eigenwilliger Trainer gilt, besitzt zudem eine Ausstiegsklausel in seinem Kontrakt. Der Verein, der ihn verpflichten will, muss etwa 200 000 Euro Ablöse zahlen. Ancillo Canepa, der Präsident des FC Zürich, sagt aber auch: "Wir legen Lucien Favre keine Steine in den Weg."
Der Meistermacher
Herthas Verantwortliche sollen Favre seit seinem Auftritt im Herbst 2001 im Uefa-Cup in Berlin nicht mehr ganz aus den Augen verloren haben. Damals besiegte Servette Genf mit Trainer Favre die Berliner in zwei Duellen (0:0 in Genf, 3:0 in Berlin) und bot besonders im Olympiastadion sehenswerten Offensivfußball. Mit dem Ausscheiden der Berliner im Uefa-Cup beschleunigte Favre damals ein wenig die Trennung Herthas vom langjährigen Trainer Jürgen Röber, der im Februar 2002 Berlin verlassen musste.
Favres Vorzüge sollen in seiner akribischen Arbeitsweise liegen, in seinem feinen Gespür für Talente. Zudem liebe er den Offensivfußball, den er einst als hochtalentierter Spielmacher bevorzugte. Allerdings galt er als Profi auch als eine Diva.
Fakt ist, dass der frankophile Mann auf all seinen Stationen Erfolge erreichte. Allerdings soll er ein Trainer sein, der von seinen Klubchefs Zeit einfordert, um eine starke Mannschaft entwickeln zu können. Ob man ihm im ungeduldigen Berlin diese Zeit einräumt, erscheint fraglich. Favre - und das ist noch ein gewisser Unsicherheitsfaktor für Manager Dieter Hoeneß - gilt als zögerlich, wenn es um wichtige private Entscheidungen geht. Im Umfeld des FC Zürich heißt es auch, Favre würde sich nicht vorschnell auf eine Offerte aus Berlin einlassen. Mit Christian Gross (52) vom FC Basel, der auch von Hertha BSC hoch geschätzt wird, verabschiedete sich ein Kandidat selbst: "Ich bleibe in Basel. Mir gefällt hier alles."
Immerhin sitzt, bei einem negativen Bescheid von Favre, in Karsten Heine (52) die zweite Option parat. Auch in dem Norweger Trond Sollied (47) - früher Olympiakos Piräus, derzeit ohne Job - hat Hertha gesprochen. Heine, über dessen Zukunft nach einer Ankündigung von Hoeneß vor der Presse, längst entschieden sein sollte, hat geplant, Donnerstag an die Ostsee zu fahren, in den Urlaub. "Das kann ich aber verschieben", sagt er. Eine Auskunft, ob er künftig doch weiter der Cheftrainer der Profis ist oder in die Oberliga geht, hatte er bis Mittwochabend noch nicht erhalten.
Hertha BSC spielt auf Zeit, und Karsten Heine bleibt nur die Rolle des Reservisten. Lucien Favre aber wurde am Dienstagabend im Kurhaus zu Bern zum zweiten Mal nacheinander zum Schweizer Trainer des Jahres gekürt. Anwesend war er nicht. "Er ist in der Toskana", sagte Ancillo Canepa, der Präsident des FC Zürich, andere wollen ihn in Berlin gesehen haben.
http://www.berlinonline.de/berliner-zei ... 57818.html