Inlers grosses Glück beim kleinen VereinGökhan Inler ist glücklich beim kleinen Udinese. Und unglücklich, wie sein Team am Sonntag das Spitzenspiel bei Inter 0:1 verlor.
93 Minuten Arbeit sind vorbei. Gökhan Inler zieht das Trikot hoch und wischt sich den Schweiss aus dem Gesicht. Rund um ihn herum haben knapp 50'000 Interisti zur Feier angesetzt, drei Minuten vorher hatten sie ihre eigene Mannschaft noch ausgepfiffen. Inler steht gebeugt da, die Hände auf die Oberschenkel gestützt.
«Wir können als junge Mannschaft zeigen, wie weit wir sind», hatte der Schweizer Nationalspieler vor dem Match gesagt, «das ist ein guter Test für uns.» Es kam der Sonntagnachmittag mit dem Spitzenspiel. Das Spitzenspiel mit Udinese, dem Klübchen aus dem Dreiländereck Italien, Slowenien, Österreich. Der Ausbildungsverein, der mit vergleichsweise kleinen Mitteln junge Spieler einkauft, ausbildet und dann verkauft. Der das vergangene Geschäftsjahr entgegen allen Normalitäten im italienischen Profifussball mit acht Millionen Euro Gewinn abschloss. Der nun mit dem besten Start der Klubgeschichte auf Platz 2 gestürmt ist. Und das Spitzenspiel mit Pazza Inter, dem verrückten Inter Mailand, zehn Jahre lang nur ein Brennofen für die Erdöl-Millionen von Patron Massimo Moratti, in den vergangenen drei Saisons aber endlich wieder Meister. Und neuerdings mit José «the special one» Mourinho an der Seitenlinie.
Der Rasen ist an diesem sonnig-warmen Novembernachmittag in bestem San-Siro-Zustand, also durchzogen von Löchern und Graslücken. Im Udinese-Sektor, zur Hälfe gefüllt, werden zwei Schweizer Flaggen geschwenkt. Bei Inter sitzen Stankovic, Cruz, Materazzi und Crespo auf der Bank. Bei Udinese spielen Handanovic, Coda, Ferronetti oder Lukovic.
Ein paar kleinere Berühmtheiten
Es ist eine Mannschaft mit vielen unbekannten Namen und ein paar kleineren Berühmtheiten. Inler gehört zu diesen, nachdem er in seiner ersten Saison von der «Gazzetta dello Sport» zum besten neuen Ausländer der Liga gewählt wurde. Quagliarella, der Nationalstürmer. Und ein wenig auch Pepe, der Neo-Nationalspieler.
Nach einem Jahr Udinese lag für Inler im Sommer ein Vertrag aus London bereit. Inler war stolz auf die Anfrage Arsenals und verzichtete trotzdem auf den Transfer. Er hatte für sich entschieden, die Leistung aus der Vorsaison bestätigen zu wollen. «Wenn man einen Klub für Arsenal verlässt, muss man stabil und bereit sein. Ein solcher Transfer wäre für mich zu früh gekommen.»
Es hat andere Stammspieler gegeben, die auch umschwärmt wurden von grösseren, reicheren Vereinen. Aber nur Dossena hat Udine verlassen, für einen Vertrag beim FC Liverpool. «Wir haben hier ein Konzept», sagt Inler, «deshalb haben sich viele von uns für den Aufbau einer Mannschaft statt für den Wechsel entschieden.» Zum Konzept gehört auch, dass die Klubführung um Präsident und Werkzeugproduzent Pozzo eine offensive Ausrichtung mit drei Stürmern verlangt.
Es hat sich im Klub ein Kern von jungen, hungrigen, talentierten Spielern gefunden. Dass die Mannschaft praktisch unverändert blieb, ist Inlers erste Erklärung für den ausserordentlichen Saisonstart. Und er berichtet auch von der Freude bei der Arbeit. Von Spielern, die wüssten, dass sie nur in einer perfekt zusammenarbeitenden Gemeinschaft Erfolg haben könnten. Von einem Trainer, Pasquale Marino, der Leistungsbereitschaft mit Vertrauen belohne. Von einem Paket, das ihn sagen lässt: «Wir glauben an uns.»
90 Minuten lang macht dieses Udinese (mit Alain Nef auf der Bank) gegen Inter alles richtig. Es kann zwar selten einen Gegenstoss bis zum Ende führen. Aber es verteidigt fast fehlerfrei mit Inler im defensiven Mittelfeld. Der 24-Jährige ist ein Vorprescher und Balljäger. Er steigt ein paarmal hitzig in die gewonnenen und verlorenen Zweikämpfe gegen Vieira und Ibrahimovic und fragt später nicht ohne Stolz in der Stimme: «Spürte man, dass ich bissig war?» Er spielt einen Johann Vogel der besten Tage und der nächsten Generation: kräftiger, ruppiger, schussstärker. Er verliert auch unter Druck kaum einen Ball und bekommt einmal Szenenapplaus von den Mitgereisten, als er sich auf engem Raum befreit gegen zwei Interisti.
Bevorzugt den kurzen, sicheren Pass
Er bevorzugt bei diesem Gegner den sicheren kurzen gegenüber dem risikoreichen langen Pass deutlich. Am Ende stehen bei 45 Ballkontakten 6 Ballverluste, den gegnerischen Strafraum aber hat er nur einmal von nahem gesehen. Dass er offensiv noch zu selten ein Spiel prägen kann, zählt er zu seinen ersten Schwächen. «Wenn wir nicht agieren, sind wir eine ganz normale Mannschaft», sagt Inler über Udinese. Das hat er vor ein paar Wochen beim 0:1 auswärts gegen Juventus erfahren, als ihm sein Team zu passiv war. Der Auftritt in Mailand ist anders, besser. Ja, es wäre ein sehr guter Nachmittag geworden ohne die 91. Minute. Ohne den Eckball des Nigerianers Obinna, die Verlängerung des Brasilianers Maicon und den Kopfball des Argentiniers Cruz, der den FC Internazionale Milano zum Sieg führt.
Später sitzen fast alle schon im Bus, als Inler mit Trainerhose und Klub-T-Shirt erst an den Journalisten vorbeizieht. 0:1 gegen Inter, ist Udinese durch den Test gefallen? «Wir haben den Test leistungsmässig bestanden«, sagt er, «wir haben uns gut gefühlt, wir haben uns nicht versteckt und gezeigt, dass wir auf diesem Niveau mithalten können.»
Enttäuscht ist er trotzdem, weil in einem Augenblick die ganze Arbeit zerstört wurde. Das späte Gegentor nur ist für ihn kein Zeichen, dass zwischen Gross- und Kleinklub, zwischen alten Stars und jungen Unbekannten doch eine entscheidende Differenz liegt. Was ihnen noch fehlte, glaubt Inler, sei die Erfahrung auf diesem Niveau. Und weil die Mannschaft verloren hat, kann er auch nicht glücklich sein mit seinem eigenen Auftritt. «Wenn wir einen Punkt geholt hätten», sagt er, «wäre es einfacher, auch mit mir selbst zufrieden zu sein.»
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