«Hannu, kannst du Schlittschuh laufen?»
AUTOR: Mit Ari Sulander und Hannu Tihinen sprachen Peter Bühler und Simon Graf, Zürich
RUBRIK: GES; S. 37ges
LÄNGE: 2309 Wörter
Ari Sulander und Hannu Tihinen gehören zu den herausragenden Persönlichkeiten der Zürcher Klubs ZSC Lions und FCZ: ein Gespräch über Sisu, die finnische Seele und das Älterwerden.
Hannu Tihinen, wie wird man im Wintersportland Finnland Fussballer?
Hannu Tihinen: Ich komme aus Lappland, aus Finnlands Norden. In Kemi, wo ich aufgewachsen bin, wurde zuerst eine Indoor-Fussball-Halle gebaut, erst später eine Eishockey-Halle. Das war der Hauptgrund, weshalb ich Fussballer wurde.
Sie spielten das ganze Jahr in der Halle?
Tihinen: Im Sommer nicht, da spielten wir draussen (lächelt). Aber der Sommer dauert in Kemi nicht viel länger als fünf Wochen.
Ari Sulander, kennen Sie Kemi?
Ari Sulander: Nein, so weit nördlich war ich noch nie. Ich schaffte es nur bis Oulu, das ist etwa eine halbe Autostunde weiter unten.
Jedes Kind will Tore schiessen. Weshalb wurden Sie Eishockey-Goalie?
Sulander: Es ist die übliche Geschichte. Keiner wollte ins Tor. Da stellte ich mich rein. Und dann war ich ganz aufgeregt wegen der tollen Ausrüstung, der grossen Handschuhe und dem speziellen Stock. Also blieb ich im Tor, obwohl ich der zweitbeste Schlittschuhläufer im Team war.
Tihinen: (lacht) Das glaube ich dir nicht. Der Trainer hat dir doch gesagt, du seiest als Stürmer zu schlecht. Also hast du dich ins Tor gestellt.
Sulander: Also bitte, das stimmt überhaupt nicht! Hannu, kannst du überhaupt Schlittschuh laufen?
Tihinen: Natürlich, aber ich bin nicht besonders gut.
Also wurden Sie auch deswegen Profi-Fussballer statt Eishockeyspieler?
Tihinen: Jari Litmanen war für die jungen Spieler in Finnland das grosse Vorbild. Er schaffte bei Ajax Amsterdam den Durchbruch, ebnete den Weg für finnische Fussballer. Nach Litmanen gingen viele finnische Talente ins Ausland.
Sulander: Ich spielte früher auch Fussball. Nicht schlecht, aber ich war besser im Eishockey. Ich wusste schon früh, dass ich Hockeyprofi werden wollte.
Tihinen: Es war lange ein Phänomen in Finnland. Viele Junge spielten gut Fussball und Eishockey. Als sie sich mit 15, 16 Jahren für eine Sportart entscheiden mussten, wählten die meisten Eishockey.
Finnland hat nur 5,3 Millionen Einwohner, es ist aber eine grosse Sportnation.
Tihinen: Wir haben die Skispringer, die Langläufer, die Formel-1-Fahrer, die Eishockeyspieler und die Fussballer - herausragende Sportler in verschiedenen Sparten. Sie sind Idole, zu denen die Jungen hochschauen. Aber ich denke, das Geheimnis hinter den Erfolgen fasst man am besten mit einem Wort zusammen: Sisu.
Was verstehen Sie darunter?
Tihinen: Sisu ist eigentlich nicht in eine andere Sprache übersetzbar. Das Leben in Finnland ist nicht immer einfach. Wir haben lange und dunkle Winter. Es wird sehr kalt. Wir Finnen müssen hart arbeiten, um unter diesen erschwerten Bedingungen etwas zu erreichen. Dazu braucht es Sisu.
Das heisst Härte, Durchhaltewillen, Ausdauer, Zähigkeit, Unnachgiebigkeit . . .
Tihinen: . . . genau, das ist der finnische Charakter, die finnische Mentalität. Wir geben niemals auf, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen.
Und Sie beide haben Sisu?
Tihinen: (lächelt) Ich habe viel davon. Tief in mir drin.
Sulander: Selbstverständlich habe ich Sisu.
Wie gross ist der Unter- schied zwischen einem Lappen und einem Städter aus Helsinki?
Sulander: Helsinki ist heute eine moderne, internationale Stadt. Im Norden oben leben sie unter besonderen Umständen, auf dem Land eben. Aber wir Finnen kommen alle gut miteinander aus.
Tihinen: Ich kam mit knapp 20 Jahren von Lappland nach Helsinki, um zu studieren und für HJK Fussball zu spielen. Ich wurde sehr gut aufgenommen und habe mich sofort wohlgefühlt.
Was studierten Sie?
Tihinen: Geschichte - aber das ist die dunkle Seite meines Lebens (lächelt). Ich gab das Studium nach einem halben Jahr auf und spielte nur noch Fussball.
Sie könnten ja nach dem Karrierenende beim FCZ das Studium an der Universität Zürich fortsetzen.
Tihinen: Glauben Sie mir, das schliesse ich keineswegs aus.
Sulander: Ich war in der Grundschule, danach in einer Marketing-Schule. Mit 19 Jahren setzte ich voll auf Eishockey und wurde Profi.
Ari Sulander, können Sie sich vorstellen, auch nach Ihrer Karriere in Zürich zu bleiben?
Sulander: Durchaus. Ich fühle mich hier wohl. Meine Kinder haben alle ihre Freunde hier. Wir fühlen uns hier inzwischen mehr zu Hause als in Finnland.
Hannu Tihinen lebt in Küsnacht nahe am See. Dort ist es doch viel schöner als auf der Forch, Ihrem Wohnort.
Sulander: Das finde ich gar nicht. Wir haben auch Seeblick, auf den Greifensee. Und wenn ihr im Herbst unten im Nebel sitzt, scheint auf der Forch die Sonne.
Tihinen: Aha Ari, deshalb bist du immer braun gebrannt . . .
Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Schweizern und Finnen?
Tihinen: Die Mentalitäten sind nicht so weit auseinander. Die Leute sind zurückhaltend und höflich.
Sulander: Als ich frisch in der Schweiz war und mit der Familie spazieren ging, war ich ziemlich erstaunt: Jedermann sagte «Grüezi». In Finnland grüsst man sich nur, wenn man sich kennt. Ich finde, die Schweizer sind wirklich nette Leute.
Weshalb spielt Ari Sulander nicht in der nordamerikanischen National Hockey
League und Hannu Tihinen nicht in der englischen Premier League?
Tihinen: Ich war ja in der Premier League, aber nur drei Monate (bei West Ham). Ich war vielleicht nicht gut genug.
In einer der fünf grossen europäischen Ligen hätten Sie viel mehr verdienen können als jetzt beim FCZ.
Tihinen: Ich habe bei Anderlecht gut verdient, der Klub war jedes Jahr in der Champions League. Ich hatte einige gute Angebote. Aber Geld ist nicht alles. Mir war auch wichtig, ein neues Land kennen zu lernen, eine neue Kultur, eine neue Sprache. Ich spreche Schwedisch, Englisch, Flämisch, Französisch, Deutsch und natürlich Finnisch. Das ist mir viel wert und wird mir nach der Fussballerkarriere weiterhelfen.
Sulander: Die NHL war ein Traum für mich. Aber ich war erst mit 24 Jahren die Nummer 1 bei meinem Klub Jokerit, in der Nationalmannschaft brauchte ich weitere vier Jahre bis zur Nummer 1. Da war ich schon 28. Ich hatte damals bereits eine Familie, das Angebot des ZSC war gut. Also kam ich nach Zürich und bin geblieben. Heute bin ich fast froh, dass sich mein Traum nicht verwirklicht hat.
Hannu Tihinen, Sie sind weniger sesshaft als Sulander. Er spielt seit über zehn Jahren für den ZSC, Sie waren schon in Belgien, England und Norwegen.
Tihinen: Ich spielte ja auch vier Jahre für Anderlecht. Es ist nicht so, dass ich ständig wechseln würde. Für Ari ist es wichtig, dass es für ihn stimmt. Ihm gefällt es in Zürich und beim ZSC. Warum also hätte er weggehen sollen?
Und Sie bleiben nun auch noch länger in Zürich?
Tihinen: Mein Vertrag läuft kommenden Sommer aus. Im Moment führen der Klub und ich Gespräche. Es zeichnet sich ab, dass ich bleibe. Ich bin jetzt 32-jährig, also werden wir künftig von Jahr zu Jahr schauen, wie es weitergeht. Ob ich noch gut genug bin oder nicht.
Sie sind nun 32- und 39-jährig und haben eine lange Karriere hinter sich. Spüren Sie den körperlichen und psychischen Verschleiss?
Tihinen: Seit ein paar Wochen schmerzt der Körper am Morgen nicht mehr, weil wir so oft gewinnen (lacht). Aber ich hatte mehrere Gehirnerschütterungen. Sie hinterlassen Spuren, man muss das ernst nehmen. Ich bin vorsichtiger geworden und trage nun einen Kopfschutz beim Spielen. Wenn der nichts hilft, werde ich mir Aris Goaliemaske ausleihen.
Sulander: (klopft mit seiner Hand an den Kopf) Ich hatte grosses Glück, ich war nie ernsthaft verletzt.
Hannu Tihinen, Sie kennen die Schweiz und die Stadt Zürich schon gut. Zum Training fahren Sie mit Zug und Tram von Küsnacht auf die Allmend Brunau . . .
Tihinen: . . . das ist für mich normal. Ich will wissen, wo ich lebe. Ich will die Stadt und die Bevölkerung kennen lernen. Wenn ich allein mit dem Auto zum Training fahre, habe ich ja keinen Kontakt zu den Leuten.
Viele Mannschaftskollegen fahren im Sportwagen oder im Offroader vor dem Trainingszentrum vor.
Tihinen: Das stört mich nicht. Aber hier in der Schweiz ist der öffentliche Verkehr so gut, dass ich ihn gern benutze. (lacht) Als es kürzlich stark geschneit hat, ist allerdings nichts mehr gegangen. Ich kam zu spät zum Training und musste eine Busse bezahlen.
Sulander: Ich bin nicht oft in der Stadt. Ich fahre meistens mit dem Auto von der Forch direkt zum Training nach Oerlikon. Und dann wieder zurück. Bald kommen dann auch schon unsere Söhne von der Schule zurück.
Hannu Tihinen, wie sieht bei Ihnen ein durchschnittlicher Tagesablauf aus?
Tihinen: Wir trainieren manchmal zweimal pro Tag. Dann bleibt nicht so viel Freizeit. Wenn ich freie Zeit habe, verbringe ich sie am liebsten mit meiner Frau und den beiden Söhnen. Im Sommer gehen wir oft an den See.
Sie führen ein privilegiertes Leben.
Tihinen: Nicht nur. Andere Väter arbeiten am Wochenende nicht, wir fast immer. Letztes Jahr war ich wegen der Nationalmannschaft und dem Klub 110 Nächte von zu Hause weg. Doch ich beklage mich nicht: Das gehört zu unserem Job.
Ari Sulander, Sie gelten als der beste finnische Jasser . . .
Tihinen: . . . ich kann leider überhaupt nicht jassen. Ari, das musst du mir beibringen. Aber ich esse gerne Käsefondue. Meine Frau muss es alle zwei Monate auf den Tisch bringen.
Sulander: Früher haben wir an Weihnachten wie alle Finnen Schinken gegessen. In den letzten drei Jahren sassen wir wie viele Schweizer bei Fondue chinoise zusammen. Ich mag auch Käsefondue und Raclette (schmunzelt). Ich werde immer mehr zum Schweizer.
Wie sieht es mit Ihrer Zukunft aus? Würden Sie gerne noch eine Saison anhängen?
Sulander: Ich würde gern noch eine Saison weiterspielen. Im Moment ist alles offen. Vielleicht arbeite ich als Goalietrainer. In der Schweiz bleiben wir so oder so bis auf weiteres. Der ältere Sohn ist 16-jährig und muss noch zwei Jahre zur Schule. Dann geht er wohl an die Uni. Er ist Stürmer bei den ZSC-Junioren.
Wie gehen Sie mit der Situation um, dass Sie derzeit nicht mehr regelmässig spielen?
Sulander: Es ist schwierig für mich. Während 14 Jahren war ich so gut wie jeden Match auf dem Eis, jetzt nicht mehr. Deshalb habe ich manchmal Mühe, den Rhythmus zu finden. Die Situation ist nicht optimal für mich. Aber wenn ich spiele, gebe ich einfach mein Bestes.
Wie empfinden Sie das Leben in Zürich?
Tihinen: Vor drei Jahren kannte ich die Stadt noch gar nicht. Ich dachte mir: Zürich, das ist eine Bankenstadt, eine kühle Business-Metropole. Als ich dann erstmals hier war, stand ich auf dem Bürkliplatz. Ich sah den See, dahinter die schneebedeckten Alpen. Ich war beeindruckt und begeistert.
Sulander: Ich kam ja von Helsinki nach Zürich. Beides sind grosse Städte. Ich fühlte mich hier rasch heimisch.
Werden Sie von den Leuten auf der Strasse erkannt und auch angesprochen?
Tihinen: Ja, klar. Ich spreche gerne mit den Leuten. Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Anhänger der FCZ hat.
Sulander: Die Leute erkennen mich, aber sie stören mich nicht. Und ich gebe jedem gern ein Autogramm.
Haben Sie beide sich vor der Zeit in Zürich gekannt?
Sulander: Nein, noch nicht. Hannu rief mich in meinen Ferien im Juni 2006 erstmals an, ich war in Finnland im Sommerhaus. Er fragte: «Wie ist das Leben in Zürich?» Ich antwortete: «Wunderbar.»
Tihinen: (grinst) Und da war für mich klar. Ich komme zum FC Zürich. Sulo kann man trauen.
Lange Karrieren mit vielen Erfolgen
Hannu Tihinen, 32, ist Captain und Abwehrchef beim FC Zürich. Er wuchs in der Kleinstadt Kemi in Lappland auf. Mit 20 Jahren wurde er Profi bei HJK Helsinki. Im Ausland spielte er für Viking Stavanger, West Ham United und Anderlecht (Meister 04, 06). Im Sommer 2006 wechselte er zum FCZ und wurde in seiner ersten Saison Meister. Morgen bestreitet er in St. Gallen gegen die Schweiz sein 66. Länderspiel.
Ari Sulander, 39, ist Torhüter bei den ZSC Lions. Er wuchs in Helsinki auf und errang mit Jokerit vier Titel (92, 94, 96, 97), ehe er nach der WM 98 in der Schweiz zum ZSC wechselte. Er führte die Zürcher zu drei Titeln (00, 01, 08) und ist inzwischen der dienstälteste NLA-Ausländer. Sulander bestritt zwei WMs als Nummer 1 (98, 99 - jeweils Silber) und errang in Nagano 98 OlympiaBronze. Er absolvierte 106 Länderspiele.
Treppensteigen - Spass haben
«Wie schade», sagt Ari Sulander auf dem Turm des Grossmünsters zu Hannu Tihinen. «Ich wäre so gerne zu deinem Spiel gekommen.» Tihinen bestreitet morgen Mittwochabend mit den finnischen Fussballern in St. Gallen ein Testländerspiel gegen die Schweiz; Sulander kann nicht dabei sein, weil er gleichzeitig im Hallenstadion mit den ZSC Lions in der Hockey Champions League gegen Linköping antreten muss.
Obwohl sie sich zum ersten Mal treffen, unterhalten sich die beiden Finnen prächtig hoch oben über den Dächern von Zürich. Zuvor haben sie nach dem morgendlichen Training den beschwerlichen Aufstieg über unzählige Treppenstufen hinauf zur Plattform ohne das geringste Murren auf sich genommen. «Wenn wir jammern, dann heisst es sofort, wir seien alt geworden», sagt Hannu Tihinen lachend. Der FCZ-Abwehrchef ist seit dem Sommer 32-jährig, der ZSC-Torhüter wird im nächsten Januar bereits 40. Beide wollen sie über diese Saison hinaus weiterspielen und verhandeln derzeit mit ihren Klubs über eine Verlängerung ihrer auslaufenden Verträge.
Der Abstieg vom Turm und der anschliessende Spaziergang durch das Zürcher Oberdorf hat sie hungrig gemacht, also wird das Gespräch mit dieser Zeitung kurzerhand in eine Beiz in der Altstadt verlegt. Sie nehmen die Einladung zum Mittagessen gerne an. Tihinen fragt die Kellnerin mit einem breiten Lachen im Gesicht: «Heute bezahlt der Tagi. Was ist das teuerste Gericht?» Die Antwort: «Rindsschmorbraten.»
Eine Viertelstunde später sitzen die beiden Finnen zufrieden über einem beachtlichen Stück Rindsschmorbraten und erzählen aus ihrem Leben. (pb./sg.)
«Wir Finnen müssen hart arbeiten, um etwas zu erreichen.» HANNU TIHINEN