Beitragvon Roger Kundert » 16.11.09 @ 23:04
Quelle: TA-Online
Hätte Robert Enke das gewollt?
Nach der Ergriffenheit das Befremden: Medien kritisieren die grösste Trauerfeier, die je für einen Sportler in Deutschland abgehalten wurde.
Gestern wurde in Hannover dem verstorbenen deutschen Torhüter Robert Enke gedacht. Er hatte am Dienstag Selbstmord begangen. Der Goalie, der zuletzt fast sechs Jahre bei Hannover 96 gespielt hatte, litt an Depressionen. Enke wurde 32 Jahre alt.
Die Ausmasse der Zeremonie im Fussballstadion erinnerten an ein Staatsbegräbnis. Vor dem Standion flackerte seit Tagen ein Lichtermeer, die Menschen legten Blumen und Fotos nieder, trugen sich in Kondolenzbücher ein. Zu Zehntausenden nahmen sie Abschied von Enke, der ausserordentlich beliebt – für viele ein Idol – war.
In deutschen Medien wird der Aufwand und die Aufmachung des grössten Begräbnisses seit Konrad Adenauer allerdings auch hinterfragt: Enkes Sarg wurde im Mittelkreis der AWD-Arena aufgebahrt, im Stadion waren 45'000 Menschen dabei, viele klatschten, ausserhalb des Stadions wurde das Ereignis auf Grossleinwänden übertragen, fünf Fernsehsender übertrugen die Trauerfeier live.
«Die Welt», 15. November: «Es bleibt von dem Fall Enke das ungute Gefühl, dass hier die Privatsphäre eines Menschen posthum dem öffentlichen Bedürfnis nach identifikatorischer Nähe geopfert wurde. Ist es nicht genau dieser alles durchdringende Blick der anderen ins eigene Seelenleben, dem sich Enke durch die Flucht aus dem Leben entziehen wollte? Dass die schonungslose Durchleuchtung des Inneren eines Menschen, der sich nicht mehr wehren kann, keineswegs nur zynischer Sensationslust, sondern vielmehr überbordender Zuneigung und einem Mitgefühl geschuldet ist, das kein Mass mehr kennt, macht sie nicht weniger beunruhigend.
Wie viel Mitgefühl bleibt für den Lokführer?
Andererseits aber kann man Robert Enke auch nicht nur als Opfer betrachten. Seine Selbsttötung, vor allem aber die Art, wie er sie verübte, liess ihn zugleich zum Verursacher neuen Leids werden. (...) Wie viel Mitgefühl der Gesellschaft aber bleibt für den Lokführer übrig, den Enke dazu nötigte, ihn zu überrollen, und der nicht nur mit diesem schweren Trauma, sondern auch in dem Bewusstsein weiterleben muss, den Tod eines von unzähligen Menschen verehrten Idols herbeigeführt zu haben? Wie gross ist zudem das Mitleid mit den Feuerwehrleuten und Polizisten, denen es oblag, die zerfetzten Überreste dieses Idols zu bergen?»
«Der Tagesspiegel», 15. November: «Hannover ist an diesem Sonntag das Zentrum eines Phänomens, das die Deutschen seit ein paar Tagen irritiert. Ein ganzes Land leidet seit Dienstag unter dem Tod eines Fussballtorhüters, den das halbe Land am Montag noch gar nicht kannte. Robert Enke war ein junger, höflicher Mann, er hat ein paar Mal für die Nationalmannschaft gespielt und ansonsten in der Öffentlichkeit kaum stattgefunden, weil er nicht stattfinden wollte. Er war das genaue Gegenteil des Idols, zu dem ihn das Land posthum gemacht hat.»
«Sein Tod lehrt nichts»
«Die Welt», 16. November: «Nein, das hätte nicht sein müssen, nicht sein sollen. Man kann Gesten der Trauer so überdehnen, dass sie das Ungehörige streifen. Robert Enke war ein populärer, charismatischer und wenig eitler Fussballspieler. Und er litt an einer schweren Krankheit, die tödlichen Verlauf nahm. Nicht Fussballbusiness und Leistungsdruck haben ihn getötet, die Krankheit hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Sein Tod lehrt nichts. Deswegen war es ein Fehlgriff, den toten Robert Enke wie einen König aufzubahren. (...) Noch immer hat der Trauer-Tsunami, der über Deutschland und Hannover ging, etwas Rätselhaftes. (...)
Die Massstäbe entglitten
Der Zufall wollte es, dass der Tag, an dem auf dem Rasen in Hannover Robert Enkes gedacht wurde, zugleich der Volkstrauertag war. An dem wurde ganz früher der gefallenen deutschen Soldaten und später aller 55 Millionen Toten gedacht, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren. (...) Dieser Tag hat längst an Bedeutung verloren. Das Gemeinschaftshafte, das er hatte, scheint in die Gesellschaft der individuellen Wege nicht mehr zu passen. So kommt es, dass die Soldaten, die in Afghanistan ihr Leben verloren haben, im Traum nicht solche Wogen der Trauer auslösen wie der eine Robert Enke. Er, der Fussballspieler, stiftet Gemeinschaft auf höchstem Niveau. Die Trauer um die in Afghanistan gefallenen Soldaten bleibt in engen Grenzen und weithin privat. Irgendwie sind uns da vielleicht die Massstäbe entglitten.»
Auch in Leserbriefenwird die mediale Aufarbeiten dieses schrecklichen Ereignisses hinterfragt: So schreibt ein Leser in der «Welt»: «So tragisch der Tod eines unter Depressionen leidenden Menschen ist, so darf doch nicht vergessen werden, dass es in Deutschland viele Menschen gibt, die sich in einer ganz ähnlichen Situation befinden. (...) Wenn nicht der Tod eine Strafverfolgung beenden würde, müsste man Enke zu Verantwortung ziehen für das seelische Leid, das er den unschuldig an seinem Tod beteiligten Personen zugefügt hat.»
«Wieder einmal haben wir bewiesen, sehr oberflächlich zu sein»
Im «Abendblatt» kommentiert eine Leserin: «Wo ist hier das Fairplay ? Der Lokführer wurde nie erwähnt, sein Seelenzustand, sein Leid, sein Gefühle. Wieder einmal haben wir bewiesen, sehr oberflächlich zu sein. Frau Merkel schreibt einen persönlichen Brief an die Witwe, in den Gottesdiensten wird um Verständnis und Nächstenliebe gepredigt. Kein