Wie man ausländische Kinder integrieren kann, zeigen die Macher von Letzikids in Zürich seit bald fünf Jahren. Sie haben aus einer Fussballschule eine Schule fürs Leben gemacht.
Von René Staubli
Zürich. – Die Kinder sind dunkelhäutig oder bleich, kommen aus Ex-Jugoslawien, der Türkei oder der Schweiz, leben in den Zürcher Arbeiterquartieren oder in der Agglomeration, gehören zum Mittelstand oder zur Unterschicht – kurz: Sie sind ein Abbild der Stadtzürcher Gesellschaft.
Allen gemeinsam ist die Zugehörigkeit zu den Letzikids, einem Fussballprojekt des FC Zürich. Seit Juli 2003, damals noch in Zusammenarbeit mit dem Quartierverein Blue Stars, sind rund 300 Kinder in die Fussballschule eingetreten, normalerweise mit 7 Jahren. Mit 12 erfolgt der Abschied vom Kinderfussball und der Übertritt in die FCZ-Academy oder in die Juniorenabteilung eines Quartier- oder Landvereins. Projektleiter Marco Bernet zieht nach fast fünf Jahren eine positive Bilanz: «Die Kinder haben sich in sportlicher Hinsicht sehr gut entwickelt, aber auch in ihrem sozialen Verhalten.»
Am Anfang steht ein Vertrag
Tatsächlich ist es weit mehr als ein Fussballtraining, das die Macher der Letzikids anbieten – es ist praktische Integrationsarbeit. Mit Einfühlungsvermögen und Konsequenz gelingt es ihnen, den Kindern wichtige Grundregeln des Zusammenlebens zu vermitteln.
Jeweils 40 bis 45 Siebenjährige nehmen am halbjährigen Schnupperkurs teil. Die Betreuer bewerten in erster Linie ihr fussballerisches Talent. Nur 25 schaffen den Sprung zu den Letzikids. Damit verbunden ist ein Aufnahmegespräch, an dem die Eltern, das Kind, sein künftiger Trainer und ein Projektkoordinator teilnehmen. Eltern und Kind erfahren, welche Verhaltensregeln von nun an gelten sollen. Die Kinder müssen sich in die Gruppe integrieren; für die Eltern gilt es, ihre Sprösslinge loszulassen und bei Trainings und Spielen einen Respektsabstand einzuhalten, was nicht allen leicht fällt: Jede Einmischung von der Seitenlinie ist verboten.
Wenn Stanic und Barmettler kommen
Ein Augenschein an einem kalten Mittwochnachmittag auf der Sportanlage Buchlern vermittelt eine Vorstellung davon, was die Betreuer von den Kids verlangen. Fünf Minuten vor Trainingsbeginn stehen die Kinder umgezogen und in einheitlicher Kleidung auf dem Platz. Jedes geht zu jedem Betreuer und begrüsst ihn per Handschlag und direkten Augenkontakt. Wer zu spät kommt, muss sich erklären. In notorischen Fällen droht der Ausschluss vom Trainingsbetrieb.
An diesem Tag kommt niemand zu spät. Auch die FCZ-Spieler Kresimir Stanic und Heinz Barmettler erscheinen pünktlich zum Fototermin. Sie sollen mit ihrer Anwesenheit beim Training und beim Fototermin zeigen, wie wichtig der Profi-Abteilung des FCZ die Nachwuchsarbeit ist. Natürlich schüttelt ihnen jedes Letzikid mit spürbarem Stolz die Hand.
Zum Aufwärmen reihen sich die Kinder kommentarlos in kleine Gruppen ein, wo einer versuchen muss, den Ball zu erwischen, den sich vier oder fünf andere auf kleinem Raum zuschieben – eine Art Ritual vor dem eigentlichen Training. Die nachfolgenden Übungseinheiten verlaufen erstaunlich diszipliniert und dauern bis zu 20 Minuten, was für Kinder in diesem Alter anspruchsvoll ist. Keiner hängt ab, und nach Fehlern sind keine abschätzigen Bemerkungen zu hören. Der Betrieb wirkt fast professionell, nur dann und wann von fröhlichem Lachen unterbrochen. Wenn die Betreuer die Gruppen versammeln, um neue Übungen zu erklären, hören die Letzikids konzentriert zu.
Laut Marco Bernet entwickeln die Buben – leider melden sich (noch) fast keine Mädchen – im Laufe der Zeit ein gesundes Selbstbewusstsein. Sie lernen ihre sportlichen und psychischen Grenzen kennen, finden sich im Umgang mit Autoritätspersonen zurecht, haben Spass im Training, sind aber auch fähig, jederzeit auf Leistung umzuschalten. Es gebe keine Probleme mit Rassismus, auch unter den Eltern nicht. Natürlich komme es in der Garderobe, wie üblich bei Jungs, dann und wann zu Hänseleien, doch schreiten die Trainer laut Bernet «konsequent ein, wenn ein gewisses Mass überschritten wird». Das Ziel sei, die Kinder zu Fairplay zu erziehen.
Notgedrungen lernen die Kids auch, mit Enttäuschungen umzugehen. Wenn für ein internationales Turnier im Ausland nur 11 Spieler aufgeboten werden, ist das für die 15 Überzähligen natürlich frustrierend. Die Trainer reden mit ihnen: «Noch seid ihr leistungsmässig nicht ganz so weit wie Eure Kollegen, aber auch ihr habt einen wichtigen Anteil am Teamerfolg, und auch ihr könnt es eines Tages schaffen!» Die «Amtssprache» ist bei den Letzikids übrigens Züritüütsch oder Hochdeutsch, ebenso im Kontakt der Betreuer mit den Eltern. Dolmetscher werden keine eingesetzt, was die Motivation aller Beteiligter erhöht, Deutsch zu lernen. Die jährlichen Kosten belaufen sich auf 300 bis 500 Franken pro Kind, doch wurde noch nie eines abgewiesen, dessen Eltern sich den Betrag nicht leisten konnten.
Integration im Feriencamp
Integration findet auch in den jährlichen Feriencamps der Letzikids statt. Im kommenden Februar gibt es auf dem Utogrund wieder zwei einwöchige Sportlager. Fussball wird nur am Nachmittag gespielt, der Morgen ist ausgefüllt mit andern Sportarten – und die zweistündige Mittagspause hat einen besonderen Stellenwert.
Für das Essen wird eine Fassstrasse eingerichtet. Die Kinder müssen von allem probieren: Suppe, Salat, Hauptspeise. Sie dürfen so viel schöpfen, wie sie essen können, aber es dürfen keine Essensreste auf dem Teller liegen bleiben. Natürlich darf den Teller ein zweites Mal füllen, wer noch Hunger hat. Schon dieser Entscheidungsprozess in eigener Sache ist für viele eine Herausforderung. «Für 25 von 50 Kindern wird es das erste Camp überhaupt sein», sagt Bernet. «Viele waren noch nie weg von zu Hause.» Nach dem Essen spielen die Kinder miteinander Lotto, Bilderrätsel und dergleichen mehr. Dabei kümmern sich die Älteren um die Jüngeren; jede Gruppe hat einen Captain, also ein Vorbild. Bernet sagt, es gehe «zwei Tage lang darum, die definierten Regeln durchzusetzen – vom dritten Tag an gibt es selten mehr Probleme.»
Einbezug der Eltern
In all diesen Prozessen spielen auch die Eltern eine wichtige Rolle. Bernet sagt, sie seien «der wichtigste Coach ihres Kindes ». Diese Ressource wollen die Leiter von Letzikids nutzen. Seit 2004 gibt es einen Elternrat. Über dieses Gremium können Väter und Mütter ihre Anliegen an die Trainer herantragen, was allerdings nicht allzu oft geschieht.
Fast wichtiger sind die Veranstaltungen, an denen Fachleute die Eltern über Themen wie Leistungsdruck, sportmedizinische Betreuung, Schuhkauf, Wachstumsprobleme, adäquate Ernährung oder Schule & Sport informieren. An solchen Veranstaltungen nehmen laut Bernet jeweils 80 bis 90 Eltern teil.
Mit welcher Konsequenz und Transparenz bei Letzikids gearbeitet wird, illustriert folgende Episode. Einmal ging ein Vater während eines Spiels verbal auf einen Schiedsrichter los. Die Leiter von Letzikids verboten ihm in der Folge für ein halbes Jahr den Besuch von Spielen und Trainings. Er musste sein Kind am Stadioneingang abgeben und es nach dem Training dort wieder abholen. Der Bub durfte weiterhin am Training und an den Spielen teilnehmen; schliesslich traf ihn am Verhalten seines Vaters keine Schuld. Alle Eltern und alle Letzikids wurden von den Betreuern über den Vorfall und die getroffenen Sanktionen informiert.
Quelle: tagi,27.12.07, Seite 13