Was Gladbachs Raffael so stark macht
Von Null auf Netzer
Der Gladbacher Raffael zählt seit Jahren zu den besten Scorern der Liga. Und brillierte doch lange unter dem Wahrnehmungsradar. Das ändert sich erst jetzt.
Lange Zeit wurde abseits des Niederrheins kaum über ihn berichtet. Doch plötzlich taugt Gladbachs Raffael als Posterboy, hievt ihn etwa die »Sport Bild« in dieser Woche auf die Titelseite. Blonde Netzer-Perücke inklusive. Doch warum ausgerechnet jetzt, da Raffael doch schon seit Jahren bewiesen hat, ein absoluter Top-Spieler zu sein?
Mehr Scorer-Punkte als Huntelaar und Robben
In den vergangen drei Jahren hat er mit 59 schließlich mehr Scorer-Punkte gesammelt als Klaas-Jan Huntelaar (37), Stefan Kießling (49), Max Kruse (56) oder Julian Draxler (23). Die immerhin Nationalspieler, besungene Bundesliga-Institutionen oder schlappe 36 Millionen Ablöse schwer sind. Und selbst Franck Ribery (40), Arjen Robben (46) und Marco Reus (56) bleiben hinter Raffael. Wenn sie auch zum Teil erheblich weniger Spiele abgeliefert haben. Aber gesund zu bleiben ist schließlich auch eine Qualität. Denn was nutzt der stärkste Sportwagen, wenn er ständig in der Werkstatt steht?
Warum aber überkommt Raffael ausgerechnet jetzt eine Art (medialer) Mini-Hype? Weil er es verdient hat. Weil er der aktuell einzige Bundesliga-Spieler ist, der sowohl bei den erzielten Toren als auch den geleisteten Torvorlagen einen zweistelligen Kontostand vorzuweisen hat. Weil er drauf und dran ist, die 26 Scorer-Punkte, die Günter Netzer in der Saison 1966/'67 für die Borussia erzielt hat, einzustellen. Dass er damit noch immer hinter den 29 Scorer-Punkten läge, die Marco Reus in der Saison 2010/11 geschafft hat — geschenkt. Günter Netzer kommt einfach besser rund um das Thema Mönchengladbach.
Vorliebe für Currywurst
So falsch der Vergleich mit dem »langen Blonden« auch ist. Denn der Brasilianer hat ziemlich wenig gemein mit einem der ersten Popstars des deutschen Fußballs. Auf der einen Seite der schillernde Netzer, der als Gründer und Verleger des Gladbacher Stadionheftes »FohlenEcho« schon früh ein Gespür für das Geschäft bewies und als Disco-Betreiber sein Image als Freigeist untermauerte. Auf der anderen Seite — Raffael. Ein Mann, der sich über jeden freut, der ihm im Scheinwerferlicht einen Schatten vor die Füße wirft. Und über den privat nicht sonderlich mehr bekannt ist, als dass er Mr. Bean lustig findet, Zeuge Jehovas ist und gern Currywurst (!) isst.
Nach Mönchengladbach findet er nur über Umwege. Seine Bundesligakarriere beginnt bei Hertha BSC. Auch als sein sportlicher Ziehvater Lucien Favre den Hut nehmen muss, die Hertha absteigt, bleibt Raffael; geht mit in die zweite Liga. Sein Trainer dort: Markus Babbel. Der sieht in ihm zwar den stärksten Einzelspieler der Liga, aber auch einen Sechser. »Da hat er das meiste Potential«, urteilte Babbel so spitz wie eine der Tatöwiernadeln, mit denen er sich die Embleme der angenehmeren Vereine seines Schaffens unter die Haut hat ritzen lassen. Raffael duldet still. Mit einer Ruhe, als wäre er vom Sternzeichen Stoiker.
»Es war ein Missverständnis. Sportlich und privat«
Dann steigt die Hertha erneut ab, macht Raffael zu Geld. Dynamo Kiew lockt mit der Aussicht auf Champions League-Fußball. Doch das Ukraine-Abenteuer wird schnell zum Fehltritt. »Es war ein Missverständnis. Sportlich und privat«, so Raffael im Rückblick. Yuri Semin, der Trainer, der ihn unbedingt haben wollte und immerhin neun Millionen Euro hinblätterte, war längst weg, als Raffael in Kiew aufschlug. Dessen Nachfolger konnte mit ihm genauso wenig anfangen, wie seine Familie mit den neuen Lebensumständen. Nach nur einem halben Jahr flüchtet Raffael auf Leihbasis zum FC Schalke 04.
Dort pendelt er zunächst zwischen Bank und Startelf. Erst in den letzten sieben Spielen der Saison 2012/13 gehört er zum königsblauen Stamm. Dafür lesen sich die sieben Torbeteiligungen in 16 Rückrundenspielen mehr als ordentlich. Schalke sieht dennoch davon ab, die mit Dynamo ausgehandelte Kaufoption von kolportierten sechs Millionen Euro zu ziehen. Aus heutiger Sicht ein Schnäppchen. Und ein Fehler, wie nicht wenige, die es mit Schalke halten, im Rückblick befinden. Gladbach schlägt erfreut zu. Und auch Raffael selbst ist nicht gerade unglücklich, dass Schalke nur Episode bleibt.
»Gladbach gefällt mir viel besser als Schalke«
Auch wenn er anfangs verkündet: »Eigentlich wäre ich ganz gern geblieben. Wir sind Vierter geworden mit einer realistischen Möglichkeit, uns für die Champions League zu qualifizieren. Sportlich war das sehr attraktiv, und es hat Spaß gemacht, mit Leuten wie Julian Draxler und Jefferson Farfan zusammenzuspielen.« Inzwischen liest sich das etwas anders. »Es ist gut, dass ich nicht geblieben bin. Gladbach gefällt mir viel besser als Schalke.« Was vor allem an der Ruhe liege, die im Umfeld des Vereins herrsche, so Raffael diese Woche in der »Sport Bild«: »Ich denke, dass man sich bei Gladbach prinzipiell ruhiger entwickeln kann.«
Ruhe. Die ist es auch, die Raffael auf dem Platz ausmacht. Und so wirkt alles, was er auf dem Rasen anstellt, wie eine Zen-Übung des Fußballs. Als wäre er in jeder Sekunde des Spiels auf der Suche nach seiner eigenen Mitte. Er ist weder Stürmer noch Mittelfeldspieler. Weder Tempo-Spieler noch Tempo-Verschlepper. Weder Vorlagengeber noch Vollstrecker. Raffael ist ganz einfach alles zugleich.
Ein Genuss
Die Lobeshymnen auf ihn sind zahlreich und doch immer ähnlich: »Er ist einfach ein unglaublich guter Fußballer – und trotzdem ein unheimlich bescheidener Mensch«, sagt sein jetziger Trainer André Schubert. Es sei »ein Genuss, mit ihm zusammenzuspielen. Er ist ein Ausnahmekicker. Nicht nur bei uns, sondern in der gesamten Bundesliga«, sagt Mitspieler Lars Stindl. »Er macht viele Dinge richtig gut«, sagt Ex-Trainer Lucien Favre. Und: »Er ist nicht nur als Fußballer, sondern auch als Mensch wichtig für die Mannschaft.« Was aus dem Mund des ewig kritischen Schweizers fast wie die ultimative Lobhudelei klingt.
Raffael kann es mit ganzen Abwehr-Reihen auf einmal aufnehmen. Und von Zeit zu Zeit tut er das sogar. Aber niemals, weil er einfach nur Gefallen daran findet, sondern immer, weil es die für den Moment beste Option ist. Er schlängelt dann mehr über den Platz, als dass er Haken schlägt. Den Ball so eng am Fuß führend, als würden die beiden einander festhalten. Es ist nicht wie ehedem bei Marco Reus, bei dem man das Gefühl hatte, er würde durch die Gegner hindurch laufen. Raffael gleitet vorbei. Gelernt hat er das beim Futsal, den er spielte, bis er mit elf von zu Hause auszog, um mit Fußball Geld zu verdienen: »Dort habe ich die Ballbeherrschung erlernt, das feine Gefühl für das Passspiel.«
Die einzige Schwäche
Das er mindestens so gut beherrscht wie das Dribbling. Oder den (inzwischen) recht überlegten, platzierten Torabschluss. Das konsequente Anlaufen und Pressen des Gegners. Selbst die zielgerichtete Grätsche, wenn sie denn sein muss. Und so ist Raffaels vielleicht einzige Schwäche die, dass er keine absolute Stärke hat. Er ist nicht so schnell wie Pierre-Emerick Aubameyang, hat kein so gutes Gespür für den Raum wie Thomas Müller oder die Eiseskälte im Abschluss, über die Robert Lewandowski verfügt. Raffael kann einfach so ziemlich alles, was ein Fußballer können kann — sehr, sehr gut.
Selbst Vergleiche mit Günter Netzer aushalten. Natürlich in aller Ruhe.