Mit dem Geist des Oktobers
Die Schweizer Fussballer bestreiten heute Mittwoch in Slowenien den ersten Test des Jahres. Für Coach Kuhn soll er die Brücke zwischen dem erfolgreichen Herbst und der nächsten EM- Aufgabe in Georgien sein.
Von Thomas Schifferle, Nova Gorica
Die Broschüre lag im Bus auf, der die Gäste aus der Schweiz vom Flughafen Ljubljanas nach Nova Gorica brachte. Sie war vom slowenischen Fremdenverkehrsverband verfasst und recht umfangreich. Nova Gorica zum Beispiel wurde als neue Stadt vorgestellt, zwar erst nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut und deshalb ohne Altstadt, aber gleichwohl als Ort «mit Charakter und Seele».
35 000 Menschen leben hier, wo Italien gleich um die Ecke liegt und das Schöne sicher nicht in der Stadt selbst zu finden ist, für die das Adjektiv schmucklos erfunden sein könnte. Anziehungskraft üben vielmehr die Casinos aus, die den Charakter der Stadt prägen. Das «Perla» ist das grösste überhaupt in Slowenien, das Hotel, das dazu gehört, ist das beste vor Ort, und hier haben Köbi Kuhn und seine Fussballer Quartier bezogen.
Sie sind seit Montagnachmittag nicht hier, um bei Roulette, Black Jack oder an einem der 779 Spielautomaten ihr Glück zu finden. Hier, im Westen der jungen Republik, die bald Teil der EU sein wird, steigen sie mit dem Testspiel von heute Mittwoch gegen Slowenien in ein neues Länderspieljahr ein, das wieder einmal von besonderer Bedeutung ist. Und nicht nur das. Die zweite Hälfte von 2002 lässt gar hoffen, dass es mit dem grossen Erfolg und der Qualifikation für die EM 2004 in Portugal endet.
Kuhns zentrale Frage
«Machen wir da weiter, wo wir vor vier Monaten aufgehört haben?», ist die Frage, die für Nationalcoach Kuhn deshalb im Zentrum dieser slowenischen Tage steht. Vor vier Monaten beschlossen die Schweizer mit dem 1:1 in Albanien und dem 2:1 in Irland den ersten Teil der laufenden EM-Ausscheidung und sorgten damit erstmals seit Roy Hodgsons Zeiten für einen beschaulichen Winter rund um die Nationalmannschaft. In Nova Gorica will sich Köbi Kuhn die Gewissheit verschaffen, dass «der Geist des Oktobers» weiterlebt. Die ersten Anzeichen dafür stimmen ihn positiv. Die Bestätigung soll das Spiel heute Abend ab 20.30 Uhr liefern, wenn seine Mannschaft gegen den EM-Teilnehmer 2000 und WM-Starter 2002 probt.
«Wir müssen das Spiel nutzen, um Selbstvertrauen zu gewinnen», sagt Stéphane Henchoz. Anfang September beim 4:1 gegen Georgien bestritt er sein letztes Länderspiel, verpasste die Reisen nach Tirana und Dublin wegen einer Operation an der Achillessehne, entwickelte daheim vor dem Fernseher mehr Emotionen als auf dem Fussballplatz, wo er sich auch bei einem Tor stets um Kontrolle bemüht, um die Konzentration nicht zu verlieren; und jetzt kehrt er in Abwesenheit von Goalie Jörg Stiel als Captain in die Mannschaft zurück.
Kuhn mag die Rolle des Captains zwar nicht überbewerten, gleichwohl will er sie von einem Spieler ausgefüllt sehen, der Persönlichkeit entwickelt und sich in der Gruppe zu Wort meldet. Für ihn bringt der 28-jährige «Liverpooler» Henchoz diese Qualitäten mit. Henchoz ist einer von fünf Spielern, die von der letzten Begegnung der Schweiz mit Slowenien übrig geblieben sind (neben Müller, Vogel, Wicky und Frei). Er hat nicht die besten Erinnerungen an jenen 6. Juni 2001, als sein Fehler das entscheidende 0:1 und den schnellen Abgang von Enzo Trossero einleitete.
Henchoz’ Lob für Kuhn . . .
Vier Tage später war Trossero durch Kuhn ersetzt. Die schwierigen Zeiten für die Nationalmannschaft waren damit aber nicht gleich zu Ende. «Kuhn hatte seine Probleme, in der Mannschaft hatten wir Probleme, weil nicht alle gut miteinander auskamen», sagt Henchoz und blendet das Problem nicht aus, das er selbst mit dem neuen Coach hatte, weil er vor dem Spiel gegen Jugoslawien kein erklärendes Wort zu seiner Nichtberücksichtigung erhielt.
Die Lehren sind gezogen, Kuhn hat seinen Stil nicht verändert und schon gar nichts von seiner Freundlichkeit verloren, aber Henchoz ist sich sicher, dass Kuhn Probleme heute anders angeht und damit umzugehen weiss. Der Coach hat sich offensichtlich an das grelle Licht der Öffentlichkeit gewöhnt, oder um es mit Henchoz zu sagen, diesem ruhigen, aber feinen Beobachter: «Er ist selbstbewusster geworden.»
. . . und für die Mannschaft
Mag auch sein, dass die Spieler gelernt haben, dass sie endlich ihre Rolle begriffen haben, dass am Misserfolg nicht nur ein Coach schuldig ist, sondern auch und gerade sie. Kuhn hat die 20 Spieler gefunden, die den Kern seiner Gruppe bilden, hat das System gefunden, das am besten auf sie zugeschnitten ist. Henchoz spürt, dass sich die Mannschaft jetzt auf dem Platz auch als Mannschaft darstellt, zieht als Beweis dafür die Leistung in Irland heran und sagt: «Von der Einstellung der Spieler her war das Spitzenklasse.»
Den heutigen Abend will Kuhn nicht mit (unnötigen) Experimenten verschwenden. Zum einen hat er keine Veranlassung dafür, zum anderen will er die Gelegenheit lieber nutzen, um konkrete Vorbereitungsarbeit auf das Ausscheidungsspiel am 2. April in Georgien zu leisten. Schon jetzt gibt Henchoz ein Remis als Mindestziel für Tiflis aus. Die Chancen, wenigstens Gruppenzweiter hinter dem favorisierten Russland zu werden und sich via Barrage für Portugal zu qualifizieren, stehen für ihn «sehr gut», jene auf den Gruppensieg immerhin «gut». Darum ist es für die Schweizer erst recht nicht nötig, sich heute im Sport Park von Nova Gorica Sympathien zu verscherzen.
Slowenien - Schweiz. Heute Mittwoch, 20.30 Uhr in Nova Gorica. - Mögliche Aufstellungen. Slowenien: Simeunovic (Dabanovic); Knavs, Bulajic, Cesar; Acimovic, Sukalo, Zahovic, Pavlin, Ceh; Siljak, Cimir. - Schweiz: Zuberbühler; Haas, Henchoz, Müller, Berner; Cabanas, Vogel, Wicky; Hakan Yakin; Frei, Chapuisat. - Ersatz: Borer; Meyer, Keller, Cantaluppi, Celestini, Thurre. Abwesend: Stiel (auf Wunsch seines Klubs), Murat Yakin und Magnin (beide verletzt).
[04:50]
--------------------------------------------------------------------------------
Die vermutlichen Startaufstellungen
Slowenien - Schweiz (Mittwoch, 20.30 Uhr) in Nova Gorica.
Slowenien: Simeunovic (Dabanovic); Knavs, Bulajic, Cesar; Acimovic, Sukalo, Zahovic, Pavlin, Ceh; Siljak, Cimirotic.
Schweiz: Zuberbühler (Borer); Haas, Henchoz, Müller, Berner; Cabanas, Vogel, Wicky (Meyer); Hakan Yakin; Frei, Chapuisat.
SR Attila Abraham (Un).