chuk hat geschrieben:1. Katar ist im fussballbegeisterten Maghreb und im nahen Osten aufgrund seiner Aussenpolitik unbeliebt bis verhasst. Der überwiegende Teil der arabischen Welt fühlt sich diesbezüglich also null vertreten. Aufgrund dieser Isolierung haben sie den Fussball als aussenpolitisches Instrument gewählt
So schwarz/weiss ist es nicht. Im Nahen Osten ist im letzten Jahrzehnt einiges in Bewegung geraten. Wenn alles wirklich so festgefahren wäre, dann würde Fussball als eher «weiches» aussenpolitisches Instrument nichts bringen. Die Frage ist natürlich: gabs irgendwann mal eine WM, wo sich eine ganze Region dadurch vertreten gefühlt hat? Fühlen sich zum Beispiel die Argentinier durch eine WM in Brasilien vertreten? Oder die Schweizer durch eine WM in Italien? Die Kasachen durch eine WM in Russland? Es geht wohl eher darum, dass der Rest der Fussballwelt durch eine WM in einer bestimmten Region diese ebenfalls als Teil der Fussballfamilie wahrnimmt und sich nicht alles nur auf Westeuropa fokussiert.
chuk hat geschrieben:2. Dieser UEFA vs. FIFA Posse tangiert den Masterplan der Kataris nicht wirklich. Ist ja letztlich nur ein Verteilkampf von 2 Verbänden, wer das grössere Stück des Fussball-Kuchens erhält. In beiden Organisationen sind sie bestens vernetzt und können mit ihren Petro-Dollars Regeln umgehen und verletzten (PSG, WM-Vergabe etc.).
Ist so. Das sind zwei voneinander unabhängige Themen.
chuk hat geschrieben:3. Die Hoffnung, dass eine reformierte FIFA den Fussball rettet, halte ich für reichlich naiv. Seit Infantino an der Macht sind viele Bemühungen zu mehr Compliance und Transparenz aktiv sabotiert worden. Ihr habt ja die 1-Landesverband-1-Stimme-Problematik schon erwähnt. Viele dieser Länder haben kaum eine Fussballinfrastruktur, werden aber laufend mit nicht zweckgebunden Millionen alimentiert, wobei viele Fälle dokumentiert sind, wo dieses Geld in dubiosen Kanälen verschwindet. Und jetzt erklär mir, wieso gerade die Typen, die sich in der Vergangenheit ungeniert selbst bereichern konnten, jemand Wählen sollen, der dieses korrumpierte System abschafft? Wer innerhalb der FIFA auf dieses Missstände aufmerksam macht, wird durch inkompetente Ja-Sager ersetzt, so geschehen mit Eckert und Borbely, die aus der Ethikkommission geschmissen wurden.
Ich finde es reichlich naiv, zu glauben, so etwas wie eine «Ethikkommission» sei ein neutrales Gremium, nur weil sie «Ethikkommission» heisst. Solche Gremien waren in der Weltgeschichte sowohl in Organisationen wie in Staaten immer Instrumente von Oppositionellen, um die aktuellen Machthaber zu stürzen und selbst die Macht zu übernehmen – und dann als eine der ersten Amtshandlungen die «Ethikkommission» still und heimlich zu beerdigen. Wenn man einer solchen Kommission wenig Kompetenzen gibt, ist sie zahnlos. Wenn man ihr viele Kompetenzen gibt, dann wird sie zum Königsmacher und damit selbst zur neuen Regierung. Den Machthaber, der eine solche Kommission nicht bewusst oder unbewusst versucht, wenn nicht aktiv zu torpedieren, so zumindest zu isolieren oder ignorieren, gibt es nicht. Und wenn es ihn gibt, dann ist er sehr naiv.
Wo Geld verteilt wird, verschwindet dieses manchmal auch und in gewissen Ländern passiert das regelmässiger als in anderen. Das ist auf keinste Art und Weise ein FIFA-spezifisches Problem, sondern eines von allen, wirklich allen (!) Globalen Organisationen. Der Fussball hat einfach eine extrem hohe mediale Aufmerksamkeit und darum kommt alles in die internationalen News, was ansonsten ein lokales oder organisationsinternes Thema bleiben würde.
Darum muss man aber noch lange nicht populistisch gleich die ganze Organisation oder das ganze System als durchwegs «korrumpiert» bezeichnen. Nur weil es einzelne «schwarze Schafe» gibt, heisst das noch lange nicht, dass man einer Organisation ihre gesamte Leistung und Errungenschaften absprechen muss, die sie auch heute weltweit leistet. Die perfekte Welt, die perfekte Organisation, das perfekte System, den perfekten Menschen gibt es nicht. Die Frage ist nur, was ist besser. Und um diese Frage zu beantworten, muss man konkrete Alternativen präsentieren und dann miteinander vergleichen. Ich persönlich finde es sehr wichtig für die Zukunft des Fussballs, dass er weltweit vereint bleibt, auf einer demokratischen Basis. Dafür gibt es mit der FIFA bereits die passende Struktur. Unter der Ägide der FIFA hat sich der Fussball zum wohl erfolgreichsten Massenphänomen der Weltgeschichte entwickelt. Und das obwohl auch in der Vergangenheit nicht alles immer koscher ablief. Als die FIFA ihre Tätigkeit begann, war Fussball eine belächelte Randsportart. Ohne die FIFA wäre keiner von uns Fussballfan geworden.
Es gibt die ewige Verlockung der «einfachen Lösung»: Struktur zerschlagen und neu errichten. Mit der naiven Vorstellung, es würde dadurch automatisch alles besser. Dabei ist die Folge davon in der Regel, dass man vieles was gut ist, kaputt macht, und was schlecht ist, noch verstärkt. Denn der Boden aus dem die neue Struktur entsteht ist immer noch derselbe, auf dem auch die alte Struktur stand. Es wurden einzig über Jahrzehnte mühsam erkämpfte detaillierte Mechanismen des Ausgleichs, der Inklusion und der Zusammenarbeit mit der alten Struktur über Bord geworfen. Die einzige Art und Weise wie etwas nachhaltig besser werden kann, ist, wenn es in kleinen Schritten verbessert und angepasst wird. Auch das sollten wir mittlerweile langsam aus der Geschichte gelernt haben.
Würde eine Weltliga unter der FIFA mit Auf-/Abstieg die Korruption in gewissen Ländern auslöschen? Natürlich nicht. Aber es würde nach meiner Einschätzung dem Fussball weltweit eine bessere Zukunft bescheren, als diejenige, welche sich zuletzt teilweise abgezeichnet hat.
chuk hat geschrieben:Da halte ich es noch für realistischer, dass eine "Koalition der kleinen Anständigen" Landesverbände die UEFA von innen heraus reformiert. Aber die sind ja auch auf die Brotkrümel angewiesen, die ihnen von den Katar-Milliarden noch übrig bleiben, darum muckt man lieber nicht zu fest auf.
Wenn du die letzte Europacup-Reform ansprichst: davon haben die Kleinen am meisten profitiert. Die Grossen haben ein bisschen profitiert. Verlierer waren die mittelgrossen Länder wie die Schweiz. Und gegen die vielen Kleinen und die paar Grossen sind die Mittleren halt in der Minderheit. Jeder schaut in erster Linie auf sich selbst und darum hat die letzte Europacupreform bei uns in der Schweiz einen so schlechten Ruf. Wenn wir etwas über den Tellerrand schauen würden, dann würden wir uns für Luxemburg, Estland, Island oder Montenegro freuen. Deren Meister haben neu bei guten Leistungen realistische Chancen, bis im Dezember Europacupspiele austragen zu dürfen und nicht jedes Jahr schon Ende Juni / Anfangs Juli rauszufliegen, bevor die Saison überhaupt begonnen hat.
chuk hat geschrieben:4. Mann muss ja nicht das Gefühl haben, dass Katar wegen dieser WM sein Kafala-System abschafft. Bis zur WM werden noch bestmöglich Imagemakulaturen vorgenommen, danach wird wieder vieles beim Alten sein. Es ist wichtig und legitim, die WM-Vergabe immer wieder zu thematisieren und zu kritisieren. Nicht einmal um eine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechte zu erreichen (unrealistisch!), sondern nur schon um all den Funktionären ein Signal zu senden, dass sie in ihren Ämtern keine Narrenfreiheit geniessen und durchaus mit Gegendruck und Reputationsverlust, vielleicht sogar mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen.
Man kann das machen, aber was für ein Signal das wirklich sendet, bin ich nicht so sicher. Nehmen wir an, aus dem FIFA-Exekutivkomitee haben ein Mariano Araneta von den Philippinen, ein Du Zhaocai aus der Volksrepublik China oder ein Mamoutou Touré aus Mali für Katar gestimmt. Was kommt bei denen als Message an? Vielleicht dies:
«Die USA haben eine Fussball-WM nicht erhalten, die sie unbedingt haben wollten und dann wie immer alle Hebel in Gang gesetzt um diesen Verrat zu bestrafen. Weil sie es können. Dabei haben uns die USA genauso zu bestechen versucht, wie Katar. Sie waren damit aber nicht erfolgreich. Katar hingegen konnte drei unserer Kollegen «überzeugen». Nicht nur wegen dem Geld. Nur die USA haben ein Justizministerium, dessen Macht über die eigenen Landesgrenzen hinausreicht. Daher die Strafverfolgungen in fremden Ländern. Ausserdem haben die westlichen Länder ihr Fussvolk mobilisiert, welches gegen die WM in Katar demonstriert. USA-freundliche Sender wie die deutsche ARD machen gegen Katar Stimmung. Voraussehbar. Sie haben ihr Zeichen gesetzt und die WM 2026 dann zugesprochen erhalten. Der Westen kann halt seine Macht immer noch häufig durchsetzen. Er versucht auch uns seine Wertvorstellungen, Wirtschafts- und politischen Systeme aufs Auge zu drücken. Aber der Westen gewinnt nicht immer. Die WM 2022 findet in Katar statt.»