Meiner Meinung nach war der Handspenalty ein Fehlentscheid. Mich nervt, dass die Regel eigentlich völlig klar ist:
"Handling the ball involves a deliberate act of a player making contact with the ball."
Kann jemand ernsthaft behaupten, dass Sissoko die Hand mit der
Absicht da oben hatte den Ball zu berühren/abzufangen? Nein. Kein absichtliches Handspiel.
Schlecht ist die Auslegung.
Was objektiv ein Handspiel ist ("den Ball mit seiner Hand oder seinem Arm berührt"), dürfte jedem klar sein. Spätestens seit Einführung des VAR kann auch der SR aus zig Winkeln und in Zeitlupe feststellen, ob der Ball an Hand/Arm ging. Was den meisten immer noch nicht einzuleuchten scheint, ist, dass (auch im Sinne des Sports) nicht jedes Handspiel ein Vergehen sein sollte. Die Crux liegt bei der Frage nach der "Absicht". Absicht hat damit zu tun, was jemand weiss und will und spielt sich als solches im Kopf des Spielers ab. Da man ihn schlecht dazu befragen kann, muss man von objektiven Merkmalen darauf schliessen, was der Spieler subjektiv wollte, um ihm dann eine Absicht unterstellen zu können. Das ist ziemlich schwierig und wird umso schwieriger, desto mehr Beurteilungskriterien man ausarbeitet. Beim Versuch, diese Frage auch für den hinterletzten SR verständlich zu machen, hat das IFAB die Regel m.E. unnötig verkompliziert, indem man z.B. folgende Präzisierungen angebracht hat:
The following must be considered:
1. the movement of the hand towards the ball (not the ball towards the hand)
2. the distance between the opponent and the ball (unexpected ball)
3. the position of the hand does not necessarily mean that there is an offence.
Hier versucht das IFAB, einen Mangel an gesundem Menschen- und Fussballsachverstand durch abstrahierte objektive Merkmale zu ersetzen.
Ich erlebe das regelmässig bei SR-Kursen für die unteren Ligen: Man versucht den Teilnehmern diese Regel zu erklären, dazu gibt's Schulungsmaterial von der FIFA mit zig Videoausschnitten, Wiederholungen und Zeitlupen. Wenn die aus dem Kurs laufen, können sie zwar o.g. Text auswendig, verstehen die Regel aber noch weniger als zuvor, weil sie schlichtweg überfordert sind. Ich kann keinem von ihnen böse sein: In der CL und in der Bundesliga sind Profi-SR am Werk und man hat den VAR - nicht einmal die kriegen es hin.
Geht man nach der oben erwähnten Regelauslegung, lässt sich in Bezug auf die Situation mit Sissoko sagen:
1. Der Arm von Sissoko ist von Anfang an da oben, der Ball geht zur Brust/Hand nicht umgekehrt, kein abs. Handspiel.
2. Die Entfernung zwischen Gegner und Ball beträgt höchstens zwei Meter und der Ball kommt mit hoher Geschwindigkeit, kein abs. Handspiel.
3. Hand auf bzw. über Schulterhöhe ist immer kritisch. In der SR-Ausbildung wird in diesem Punkt u.a. mit der Ballett-Einlage von Boateng an der EM 2016 geschult (zur Erinnerung:
http://i.imgur.com/wRwr4zx.png). Begründung: Durch die Position der Hand werde die Körperoberfläche unnatürlich vergrössert. Schaut man sich an, wie sich die Regelauslegung in den letzten Jahren entwickelt hat, ist es nur logisch, dass hier ein Hands gepfiffen wurde. Hier kommt für mich die Sache mit dem fehlenden Verstand dazu: Es fehlt am Verständnis für natürliche Bewegungsabläufe in Kopfballduellen, Grätschen, Zweikämpfen und Fussball an sich. In dieser Situation ist die Position von Sissoko's Hand/Arm eben nicht "unnatürlich". Die Hand ist nicht da oben, weil er einen Ball abfangen will, sondern weil er versucht, den Mitspielern in seinem Rücken Anweisungen zu geben. Im Spiel gegen den Ball sieht man das in jedem Fussballspiel.
2018/19 kam neu dazu:
It is usually an offence if a player:
- touches the ball with their hand/arm when:
-- the hand/arm has made their body unnaturally bigger
-- the hand/arm is above/beyond their shoulder level (unless the player deliberately plays the ball which then touches their hand/arm)
The above offences apply even if the ball touches a player’s hand/arm directly from the head or body (including the foot) of another player who is close.
Except for the above offences, it is not usually an offence if the ball touches a player’s hand/arm:
- directly from the player’s own head or body (including the foot)
- directly from the head or body (including the foot) of another player who is close
- if the hand/arm is close to the body and does not make the body unnaturally bigger
- when a player falls and the hand/arm is between the body and the ground to support the body, but not extended laterally or vertically away from the Body
In Bezug auf das fragliche Handspiel brachte m.E. auch diese Präzisierung nicht unbedingt mehr Klarheit, da immer noch von "unnatürlich" die Rede ist. Zu begrüssen ist die Präzisierung betr. Abprallen von einem anderen Körperteil an die Hand/Arm und die Sache bei der Grätsche. Das ist immerhin etwas, was man auch einem Firmenfussball-Schiri beibringen kann.
Ab 2019/20 soll neu auch "unabsichtliches Handspiel" bestraft werden. Ab dann liegt
immer ein Vergehen vor, wenn der Spieler durch das Handspiel Kontrolle über den Ball erlangt oder der Kontakt mit dem Arm oberhalb der Schultern passierte (
https://www.tz.de/sport/fussball/bundesliga-saison-2019-20-regelaenderungen-ifab-zr-12328637.html). Wenigstens ist man jetzt ehrlich - für mich trotzdem ein weiterer Schritt in die falsche Richtung.