Beitragvon Jure Jerković » 14.08.22 @ 9:25
Fachsprache und Insiderwissen im Tagi-Interview mit AC
(Sorry, doppelt gepostet…)
”Ich stehe immer noch zu dieser Aussage. Ja!”
Der Präsident des FCZ erklärt, was von den Millionen im Europacup übrig bleibt, liefert Gründe für den Fehlstart in der Liga und glaubt weiter, dass das Team besser ist als letzte Saison.
Am Tag nach dem erlösenden Sieg gegen Linfield Belfast ist Ancillo Canepa wieder früh auf den Beinen, um 7 Uhr schon. Viel Zeit, um die Berichte zum 3:0 am Vorabend zu lesen, hat der Präsident des FC Zürich trotzdem nicht. Er muss bald mit Kooki, seiner Schäferhündin, zum Arzt. Und über Mittag ist er in Schaffhausen. Vor dem 50er-Club des FC Schaffhausen hält er ein Referat zur Führung eines Profi-Fussballclubs.
Am Nachmittag redet er in seinem Büro in der Zürcher Innenstadt nicht gleich zur Lage der Nation, aber zur Lage des FCZ nach dem Fehlstart in die Meisterschaft, dem Erfolg gegen Linfield, der im Minimum den Einzug in die Gruppenphase der Conference League gesichert hat, und zur Aussicht, sich gegen Heart of Midlothian gar für die Gruppenspiele der Europa League zu qualifizieren.
Wie beruhigt haben Sie geschlafen mit ein paar Millionen unter dem Kopfkissen?
Schon jetzt von ein paar Millionen zu reden, scheint mir verwegen.
Welche denn?
Ja, es gibt Prämien, zwischen 3 und 4 Millionen. Ja, wir werden zusätzliche Zuschauer-Einnahmen generieren. Ja, ein wichtiger Teil des strukturellen Defizits kann damit gedeckt werden. Und ja, die Qualifikation für die Conference League ist von daher schon wertvoll. Aber die Kosten sind gigantisch.
Die Ausgaben für die Reisen sind wegen des ganzen Chaos in der Fliegerei so hoch wie nie. Ausserdem müssen wir zwei Heimspiele auswärts in St. Gallen bestreiten, weil der Letzigrund wegen irgendwelcher Konzerte für uns gesperrt sein wird. Das allein verursacht uns einen Millionenschaden. Und was viele wieder vergessen haben: Wir müssen noch Covid-Bundesdarlehen in Millionenhöhe zurückzahlen. Darum kann ich nicht sagen, rein finanziell sei alles super, wirklich nicht.
Der Flug nach Baku kostete 200’000 Franken …
… und nach Belfast auch mehr als 100’000 Franken. Alles absurd hohe Beträge.
Mit dem Sieg gegen Linfield ist immerhin ein erstes Saisonziel erreicht.
Dass vor allem vor dem Rückspiel bei mir eine gewisse Anspannung da war, weil im Fussball vieles passieren kann, das ist sicher so. Jetzt betone ich gerne: Wir sind die erste Mannschaft der Super League, die ihr erstes kurzfristiges Ziel erreicht hat. Punkt. Ich denke, der eine oder andere Club würde möglicherweise gern mit uns tauschen.
Mit einem Team, das in der Liga mit einem Punkt und null Toren Tabellenletzter ist?
Trotzdem, ja.
Diese Saison verläuft bisher ziemlich verwirrend. 0:4 verloren in Bern, gegen Karabach in der Champions-League-Qualifikation ausgeschieden, in St. Gallen verloren, zwischen den Spielen gegen Linfield gegen Sion 0:3 verloren …
Wenn wir die Ergebnisse anschauen, sind wir alle nicht zufrieden. Wenn wir aber die Leistungen differenziert beurteilen, sieht es anders aus. Wir haben durchaus gute Spiele gezeigt. In Bern waren wir in den ersten 60 Minuten im Minimum auf Augenhöhe, bis wir den Elfmeter verschiessen.
Das braucht doch noch lange keinen solchen Einbruch zur Folge zu haben.
Fussball ist Kopfsache. Und wenn du am Anfang der Saison bist und nicht weisst, wo du stehst, und wenn du weisst, wie schwierig es in Bern auf dem Kunstrasen ist, dann macht eine solch vergebene Chance etwas mit dir. Und YB ist dann clever genug, eine, wenn ich dem so sagen darf, Trauerphase auszunutzen und tac, tac die Tore zu schiessen. Aber machen wir weiter …
… mit St. Gallen …
… ich mag mich nicht erinnern, dass wir uns in St. Gallen je so viele Chancen erspielt haben. Wir hätten vier, fünf Tore schiessen können.
Vielleicht hätte Assan Ceesay das eine oder andere Tor erzielt.
Und ich könnte sagen: Wie war das mit ihm in den ersten drei Saisons? Wenn Marchesano in Topform ist, wenn Tosin in Topform ist, dann machen sie aus ihren Chancen ihre Tore. Im Fussball geht es auch um Selbstvertrauen, um Sicherheit, um Psychologie. Die Spieler mussten den Erfolg der letzten Saison und die vielen Feierlichkeiten verarbeiten und auch die Spiele mit der Nationalmannschaft verkraften. Die Sommerpause war für viele extrem kurz. Aber nochmals: Die Leistungen bisher waren teilweise gut.
Wirklich?
Für mich besteht auf jeden Fall kein Grund, in Panik zu verfallen oder wie Espenlaub zu zittern.
Und was war mit dem 0:3 gegen Sion, diesem Auseinanderfallen innert elf Minuten?
Natürlich ist das mehr als ärgerlich. Wir hatten diesen Match fast 60 Minuten lang kontrolliert. Aber dann unterlaufen uns individuelle Fehler, es fällt ein unnötiges Gegentor aus dem Nichts. Statt ruhig und konzentriert weiterzuspielen, reagiert die Mannschaft übermotiviert und erhält das nächste Tor. Das hat natürlich auch mit Routine zu tun. Ein Dzemaili hätte uns in dieser Situation sicherlich geholfen.
Beissen Sie bei einem solchen Spiel aus Ärger in Ihre Pfeife?
Freude hatte ich sicher nicht, aber auch die Mannschaft war enttäuscht. Gegen Sion kann man so nicht verlieren. Das ist eigentlich gar nicht möglich.
Der FCZ ist seit 2003 nie mehr so schlecht in eine Saison gestartet …
… und trotzdem bin ich mehr als gelassen. Wir stehen erst am Anfang der Saison, und ich bin sicher, dass wir relativ schnell vom letzten Platz wegkommen. Wir haben ja vor der Saison kommuniziert: Das erste Ziel ist das Erreichen der Gruppenphase eines europäischen Wettbewerbs. Darauf hat der Fokus gelegen, auch bei mir. Dass wir dieses Ziel erreicht haben, wird der Mannschaft Schub, Sicherheit und Selbstvertrauen geben. Davon bin ich überzeugt.
Der Europacup ist Ihnen vor allem wirtschaftlich wichtig.
Nein, nicht nur! Es geht doch um sportliche Gründe. International mitspielen zu können, das ist für einen Club das Höchste der Gefühle. Schauen Sie, welche Gegner wir haben können, wenn wir uns im Playoff gegen Heart of Midlothian für die Europa League qualifizieren: Manchester United, Arsenal, Union Berlin, Sturm Graz, Roma, Lazio … Und klar, auch wirtschaftliche Gründe sind für uns relevant. Wir budgetieren jede Saison mit einem strukturellen Defizit. Um das zu decken, gibt es zwei Varianten: Du machst Transfers oder spielst im Europacup.
Dieses Defizit beträgt rund 5 Millionen …
… plus/minus …
… wieso bringen Sie vor einer Saison kein ausgeglichenes Budget zustande?
Bei allem Respekt: Eine solche Frage kann nur jemand stellen, der nicht in der operativen Verantwortung eines Proficlubs steht. Wenn man gewisse Ansprüche und Ambitionen hat, muss das Kader ein Mindestmass an Qualität aufweisen. Das bekommt man auch in der Schweiz nicht zum Nulltarif. Im Rahmen der Budgetierung kennen wir die Kosten, die Einnahmen sind aber nicht zuletzt abhängig vom sportlichen Erfolg. Deshalb verzichten wir darauf, uns ein Budget zusammenzulügen und Fantasiezahlen einzusetzen.
Also planen Sie zum Beispiel ohne Einnahmen aus dem Europacup?
Auch ohne Einnahmen aus dem Cup. Und bei den Transfers ist es nur ein ganz moderater Betrag, ein tiefer einstelliger Millionenbetrag. In der Fachsprache nennt man das Kostenwahrheit.
Zwei Tage vor dem Saisonstart haben Sie beschwingt gesagt, die Mannschaft sei besser als jene der Meistersaison.
Das habe ich so wortwörtlich nicht gesagt. Das wird mir jetzt permanent im Mund herumgedreht. Im Schweizer Fernsehen auch wieder: «Herr Canepa, Sie haben doch gesagt …» Man muss doch sehen, wie die Aussage entstanden ist. An der Medienkonferenz vor der Saison fragte mich ein Journalist: «Herr Canepa, ist die Mannschaft besser, gleich gut oder schlechter als letzte Saison?» Ich sagte: Besser. Punkt.
Dieser Journalist sitzt vor Ihnen.
Was ich sagen will: Ich habe nicht aus eigener Initiative gesagt, wow, wir sind besser.
Am Ende bleibt trotzdem die Wertung, dass Sie die Mannschaft stärker einschätzen.
Ich stehe nach wie vor zu dieser Aussage. Ja! Wir haben zwei Spieler abgegeben, die wir nicht abgeben wollten. Das sind Doumbia und Ceesay. Dafür haben wir fünf Spieler geholt – allesamt mit viel Potenzial, mit Erfahrung, mit grossem Talent, gutem Charakter. Deshalb ist das Kader auf dem Papier besser als letzte Saison.
Die Neuen heissen Condé, Selnaes, Okita und Santini.
Condé ist der Nachfolger von Doumbia, er ist ein junger Spieler mit sehr viel Potenzial. Wir haben Ole Selnaes geholt, einen norwegischen Nationalspieler, er ist auf einem sehr guten Weg. Wir haben Santini geholt, einen, der weiss, wo das Tor steht, und der im Sechzehner Assists machen kann, wie ich das selten gesehen habe. Wir haben Okita geholt, einen Stürmer, der in St. Gallen ein paar Sachen zeigte, die man so sonst in der Schweiz nicht sieht.
Und Avdijai ist nachträglich gekommen.
Wer etwas vom Fussball versteht und nur schon die ersten zwei Spiele von ihm gesehen hat, der erkennt sein riesiges Leistungsvermögen. Mit diesen fünf Spielern haben wir das Kader von den Anlagen her einen Schritt weiterentwickeln können. Aber logisch, es braucht noch ein wenig Geduld.
Besteht mit Ihrer Annahme, die Mannschaft sei besser geworden, nicht die Gefahr einer erhöhten Erwartungshaltung?
Überhaupt nicht. Ich habe das schon festgehalten: Wir wollen nicht gleich den Serienmeister ausrufen. Wir wissen, woher wir kommen und was wir können. Wir haben ja auch nur ein Ziel formuliert: die Gruppenphase im Europacup zu erreichen. Nichts mehr, nichts weniger.
Was macht Sie so stolz, dass Franco Foda Ihr Trainer ist?
Weil er genau dem Profil entspricht, welches wir definiert haben. Er ist sehr erfahren, extrem engagiert, weiss, wie man Erfolg hat, und überzeugt als Persönlichkeit. Auch als Spieler hat er eine grosse Karriere gemacht. Er passt menschlich perfekt zum FCZ, und die Tatsache, dass er diese Aufgabe als Nachfolger eines Meistertrainers angenommen hat, spricht ebenfalls für ihn.
Nach aussen macht er nicht den Eindruck, als würde er die gleiche Wärme ausstrahlen wie André Breitenreiter. Wie ist es nach innen?
Wir suchten keine Kopie von André Breitenreiter. Wichtig ist, dass ein Trainer die Mannschaft mit seiner fachlichen und menschlichen Kompetenz überzeugt. Dass Franco das gelingen wird, daran zweifle ich keine Sekunde. Natürlich muss auch er die Mannschaft und das ganze FCZ-Umfeld noch besser kennen lernen. Dass sich die Zusammenarbeit laufend weiterentwickelt, spürt man als Insider tagtäglich.
Wie viel Verständnis bringen Sie für seine Rotationen und Systemwechsel auf?
Zum Rotieren: Wir haben sechs Wochen, in denen wir Sonntag-Mittwoch-Sonntag spielen. Angenommen, er hätte immer mit der gleichen Mannschaft gespielt, käme sofort der Vorwurf: Wieso rotiert er nicht? Das Rotieren ist bei dieser Belastung absolut vernünftig. Nur ein dummer Trainer würde das nicht machen.
Auch in dem Ausmass, mit bis zu sieben Spielern?
Das ist ja auch unser Credo. Alle Positionen sollen gleichwertig ersetzt werden können. In der Fachsprache nennt man das «breites Kader». Das machte uns gerade letzte Saison stark. Wir gewannen den Titel nicht zuletzt dank unserer Ersatzbank. Und diese ewige Thematik vom System: Einige Vorgänger von Franco wollten flexible Systeme einführen. Auch André Breitenreiter.
Dann liess er es doch sein.
a. Franco sagte uns beim ersten Gespräch: Ich habe gesehen, wie ihr gespielt habt, 3-5-2, aber ich möchte flexibler sein. Wir haben auch unter ihm einige Male mit der Dreierkette gespielt. Ich spüre inzwischen, dass die Mannschaft mental flexibler geworden ist. Das System ist nicht das Problem. Chancen vergeben wir nicht deswegen. Die vielen Gegentore haben damit auch nichts zu tun, sondern mit individuellen Fehlern. Die Spieler wissen das selbst auch. Sie sind alle sehr selbstkritisch.
Was den FCZ weiterhin begleitet, ist die Unsicherheit über die Zukunft von Wilfried Gnonto und Becir Omeragic. Sind die beiden im Winter noch in Zürich?
Das kann ich heute nicht sagen. Die Ausgangslage ist klar: Sie haben Verträge, die im nächsten Sommer auslaufen, wir möchten mit beiden gerne verlängern, die Transferfrist läuft noch bis Ende August, und gerade für Gnonto sind sehr viele konkrete Angebote gekommen.
Aus England, Deutschland, Italien, Frankreich, Holland?
So schaut es aus.
Und nichts hat Sie überzeugt?
Nein. Es ist kein Geheimnis, dass ich klare Vorstellungen vom Wert von Wilfried Gnontos habe. Wir werden keinen verschenken, auch Omeragic nicht.
Also lieber am Preisschild von 10 Millionen festhalten …
(unterbricht) Was auch immer auf diesem Preisschild steht. Ich habe nie explizit von 10 Millionen geredet.
Trotzdem sind Sie zum Risiko bereit, Gnonto notfalls Ende Saison gratis abgeben zu müssen.
Das ist theoretisch möglich. Oder aber er macht einen Transfer im Winter. Oder er verlängert doch noch. Alle Optionen sind offen.
Wie ist der Stand bei Omeragic?
Er hatte das Pech, lange verletzt gewesen zu sein. Und international konnte er nicht den Hype erleben wie Gnonto nach seinen Länderspielen für Italien.
Doumbia und Ceesay gingen ablösefrei, das Gleiche droht bei den zwei Jungen. Sind Sie zu knausrig, um sie zu einer vorzeitigen Verlängerung bewegen zu können?
Das hat damit nichts zu tun. Das Problem bei jungen Spielern ist, dass man mit ihnen aus reglementarischen Gründen zu Beginn keine langfristigen Verträge abschliessen kann. Einen 16-Jährigen kann man höchstens für drei Jahre binden. Und wenn bei einem Spieler wie Gnonto plötzlich viele neue Türen aufgehen, dann kann es sein, dass sein Umfeld nervös wird. Das ist «the name of the game». Wäre er nicht im Nationalteam, hätten wir den Vertrag mit ihm problemlos verlängern können.
Und jetzt sind Sie nervös?
Wir werden so oder so Lösungen zum Wohlergehen von allen finden. Ich bin weiterhin völlig entspannt.
Am Sonntag geht es für den FCZ in Winterthur weiter. Über den FCW haben Sie sich nach seinem Aufstieg sehr wohlwollend geäussert. Dann freuen Sie sich sicher auf dieses Derby.
Absolut. Es ist Zeit geworden, dass Winterthur in der Super League angekommen ist. Ich freue mich einfach auf das Wiedersehen mit der geliebten Schützenwiese, auf dieses traditionelle Stadion, das mit Erinnerungen verbunden ist. Wie ich als Bub, mit 12, 13 Jahren, im Schneidersitz neben dem Tor sitzen durfte und das Netz in der Hand hielt, wenn Zürich in Winterthur spielte.
Sie gehen davon aus, dass der FCZ jetzt gewinnt.
Ich gehe davon aus, dass wir eine gute Leistung auf den Platz bringen werden. Das Ergebnis? Sie wissen, Derbys haben eigene Gesetze.
RIP Jure. Du warst einer der Besten, die je für den FCZ gespielt haben!