Beitragvon withe lion » 12.08.22 @ 19:17
Ein interessanter Bericht aus der NZZ
Die Sportpsychologin Cristina Baldasarre sagt: «Im Schweizer Fussballnationalteam gäbe es viel zu tun»
Cristina Baldasarre arbeitet seit bald dreissig Jahren als Sportpsychologin. Ihr Metier habe immer noch ein Akzeptanzproblem, Sportpsychologie werde zu stark mit Problemen und Versagen gleichgesetzt, sagt die Zürcherin.
Frau Baldasarre, Sie arbeiten seit bald dreissig Jahren als Sportpsychologin. Was hat sich in dieser Zeit in der Sportpsychologie am meisten verändert?
Die Wahrnehmung, dass der Kopf wichtig ist, hat zugenommen. Lange hielt sich das Vorurteil, die Psyche sei im Sport vernachlässigbar. Besonders junge Trainerinnen und Trainer haben aber die Bedeutung der Sportpsychologie erkannt und stehen ihr offener gegenüber.
Also waren beratungsresistente ältere Trainer dafür verantwortlich, dass die Möglichkeiten der Sportpsychologie erst spät erkannt wurden?
Sportpsychologie ist eine junge Disziplin, noch keine achtzig Jahre alt. Es gibt noch nicht viele Erfahrungswerte, die Lobby fehlt. Und ich finde nach wie vor, dass viele Trainer resistent sind. Sie haben noch zu viel Respekt vor uns.
Warum?
Viele glauben, dass eine Psychologin durch sie hindurchsieht. Sie haben Angst davor, dass wir auf den ersten Blick erkennen, was sie falsch machen. Das ist vonseiten der Coachs keine bewusste Entscheidung. Als Psychotherapeutin vermag ich natürlich Menschen einzuschätzen, Gedanken lesen kann ich aber nicht.
Haben Sie mit Trainern aller Sportarten diese Probleme?
Ich möchte festhalten, dass es auch viele Trainer gibt, die der Sportpsychologie sehr zugewandt sind. Und: Je kleiner die Sportart ist, desto mehr muss man den einzelnen Athleten pflegen. Trainer in solchen Sportarten müssen oft flexibler sein. Und in Teamsportarten wie Fussball oder Eishockey gilt: je mehr Geld, desto weniger Sportpsychologie.
Wie meinen Sie das?
Im Fussball passiert aus sportpsychologischer Sicht im Nachwuchs seit einigen Jahren sehr viel. Aber wenn ich das Männer-Nationalteam anschaue: Da gäbe es viel zu tun.
Woher wissen Sie das?
Aus meinen Beobachtungen: Ich sehe, was auf dem Platz passiert.
Und was sehen Sie da?
Ich sehe beim Schweizer Nationalteam Leistungsschwankungen, die wenig System haben. Wir wissen zum Beispiel aus der Literatur, dass man sich unbewusst weniger Mühe gibt, je einfacher der Gegner eingeschätzt wird. Wenn man dem als Coach nicht vorausplanend begegnet, läuft man Gefahr zu verlieren. Ich habe auch den Eindruck, dass das Nationalteam oft zu lange braucht, um in die Gänge zu kommen. Dabei wäre es das A und O zu wissen, was ich in der unmittelbaren Spielvorbereitung machen muss, damit ich zu Beginn schon richtig bereit bin. In Einzelsportarten üben das etwa bereits die zwölfjährigen Eiskunstläuferinnen.
Im Fussball wird jedes Detail optimiert – und die Psyche nicht? Wie erklären Sie sich das?
Mir sagte ein ehemaliger Chef von Swiss Olympic vor Jahren einmal: «Das bisschen Plaudern können auch wir Funktionäre übernehmen – wir brauchen keinen Sportpsychologen an den Olympischen Spielen.» Das hat sich zum Glück verändert. Viele Menschen, nicht nur im Sport, denken, dass sie versagt haben, wenn sie mit einer Psychologin arbeiten. In den USA ist diese Haltung ganz anders. Dort geht jeder Spitzenathlet zu einem Sportpsychologen – aber um besser zu werden und nicht nur, um Probleme zu lösen. In der Schweiz fehlt vielen das Bewusstsein, was wir beitragen könnten.
Was können Sie beitragen?
Wir können das Selbstvertrauen von Athleten verbessern, sie stärken. Wir können helfen, dass die Sportler die bestmögliche Leistung abrufen, was aber nicht zwingend zu einer Medaille führt. Deshalb ist es schwierig, unsere Berechtigung aufzuzeigen. Ich weiss, dass Sportpsychologie einen bedeutsamen Einfluss hat, auch aus meiner täglichen Arbeit. Diesen Effekt den Verbänden und Funktionären aufzuzeigen, ist aber schwierig.
Die Schweizer Fussballnationalmannschaft gewann immerhin den EM-Achtelfinal im Penaltyschiessen. So schlecht kann ihr Zustand nicht sein.
Natürlich haben die Schweizer ein gutes Team. Doch es nervte mich, dass sie den Viertelfinal gegen Spanien im Penaltyschiessen verloren haben. Penaltyschiessen ist Standard-Sportpsychologie, das kann man üben, was oft nicht in letzter Konsequenz getan wird.
Von Fussballern wie Yann Sommer, Valentin Stocker oder Marco Streller ist bekannt, dass sie mit einem Sportpsychologen arbeiteten.
Das sind schöne Beispiele, aber Einzelmasken. Ein Spieler muss noch zu oft selber merken, dass er davon profitiert – und vor allem beim richtigen Psychologen landen. Man muss aber die Stärke haben, zur Arbeit mit einem Sportpsychologen zu stehen, wenn der Nachbar in der Garderobe sagt, so etwas brauche er nicht. Wenn neue Inputs auf eine Mannschaft treffen, ist es in der Regel so: Ein Drittel des Teams findet sie sowieso blöd, ein Drittel interessiert es nicht, ein Drittel bleibt hängen und profitiert.
Angenommen, der Schweizer Fussball-Nationaltrainer Murat Yakin würde Sie morgen anrufen und möchte mit Ihnen arbeiten: Wie würden Sie vorgehen?
Ich würde nie vor die ganze Mannschaft hinstehen, die würden mir gar nicht zuhören. Und sobald ich nach Gedanken fragen würde – etwa: wie sie sich vor einem Penalty fühlen –, dann fänden sie das seltsam. Das passt nicht in diese Welt. Vielleicht müssten gerade Fussballer anders sozialisiert werden . . .
. . . inwiefern?
Indem sie Gefühle und Kopf mehr verbinden. Das ist mit die Aufgabe des Trainers, geschieht aber zu wenig. Ich würde deshalb mit dem Trainer und den Captains zusammensitzen. In dieser Runde könnten wir überlegen, wie Coach und Captains mit dem Team arbeiten können.
Gerade über die Schweizer Fussballer ergiesst sich immer mal wieder viel Häme im Internet. Welche Auswirkungen haben die sozialen Netzwerke auf die Arbeit mit Athleten?
Einerseits lässt sich viel offener über Probleme reden, die früher ein Tabu waren. Es ist einfacher, zu posten, dass man an einer Depression leidet, als es im direkten Gespräch anzusprechen. Dank der Distanz, die in den sozialen Netzwerken entsteht, kann man verstärkt über psychische Probleme sprechen. Anderseits erlauben die sozialen Netzwerke auch, dass jeder dreinredet. Stress und Druck für die Sportler nehmen zu, teilweise sehr massiv. Die vorher angesprochene Distanz wird dann zum Problem, weil man sich nicht richtig wehren kann.
Wie bereitet man einen Athleten auf einen Shitstorm vor?
Man kann darüber reden. Aber die Gefühle, die aufkommen, wenn jemand in einem Shitstorm steht, lassen sich erst abholen und aufarbeiten, wenn der Shitstorm passiert ist.
Sind Sportler gefährdeter, psychisch zu erkranken?
Ich glaube schon, weil im Sport das Versagen in der Öffentlichkeit sichtbar ist, das Resultat einer Leistung kommt direkt. Wenn Roger Federer verliert, erfährt es die ganze Welt. Wenn ein Banker 100 000 Franken in den Sand setzt, weiss es der direkte Vorgesetzte. Zudem werden Sportler meistens nur an der Leistung und an den Medaillen gemessen.
Was muss sich ändern?
Die Haltung der Gesellschaft. Darf man schwach sein? Ist es sinnvoll, nur auf Leistung ausgerichtet zu sein? In der Sportpsychologie müsste man prophylaktisch arbeiten und nicht immer nur reagieren. Von hundert Sportlern, die zu mir kommen, wollen maximal zwei prophylaktisch arbeiten. Das sind aber nicht nationale Stars, sondern vor allem Nachwuchsathleten.
Wie bringt es zum Beispiel Mujinga Kambundji hin, dass sie genau im Startblock des 100-Meter-Rennens bereit ist?
Ich glaube, Kambundji ist eine Athletin, die das gut allein kann. Sie wirkt sehr positiv, gesetzt und ruhig. Das zeigt auch, dass jeder Sportler unterschiedliche persönliche Voraussetzungen und Bedürfnisse hat. Mit meinen Sportlern arbeite ich sehr viel mit inneren Bildern, mit Emotionen, mit Visualisierungen, mit Ritualen.
Christian Stucki, der Schwingerkönig 2019, weinte vor dem Schlussgang minutenlang in der Garderobe. War es kein Zufall, dass er Joel Wicki nach kurzer Zeit besiegte?
Ich kenne Stucki nicht und weiss nicht, wie er mental arbeitet. Aber das Weinen half sicher. Damit baute er die Anspannung ab. Als Sportpsychologin kann ich nie sagen, dass ein Athlet meinetwegen einen Wettkampf gewonnen hat. Das macht unsere Arbeit so schwierig, der Impact bleibt immer etwas schwammig. Ich weiss aber aus fast dreissig Jahren Erfahrung, dass Sportpsychologie einen Unterschied macht.
Aber Sie sind bestimmt auch schon mit einem Athleten gescheitert.
Wenn Sie Erfolg mit Medaillen gleichsetzen, dann natürlich. Ich mache eine Athletin nicht schneller und einen Athleten technisch nicht besser. Ich bereite den Menschen vor, damit er im Wettkampf seine bestmögliche Leistung abrufen kann. Unsere Arbeit ist das Tüpfelchen auf dem i – ich kann aber aus einem Fussballer nur so viel Fussball herausholen, wie in ihm steckt.
Wie gross ist der Anteil von Athleten, die die ideale Leistung trotz Ihrer Arbeit nicht erreichen?
Dieser Anteil ist kleiner als 25 Prozent. Die meisten Sportler können nach unserer Zusammenarbeit viel bessere Leistungen abrufen als vorher. Das ist ein sehr bestärkendes Gefühl. Für einen Exploit ist aber immer das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zentral. Wenn der Gegner besser ist, reicht es vielleicht trotzdem nicht für eine Medaille.
Welcher Ihrer Klienten ist besonders stark im Kopf?
Pascal Meier, der Schweizer Nationalgoalie im Unihockey.
Warum?
Übungen, die über Emotionen und Gefühle laufen, sind sehr machtvoll, und er ist auf dieser Ebene gut ansprechbar, er arbeitet im mentalen Bereich sehr gewissenhaft und setzt das Gelernte selbständig um. An der vorletzten WM wurde er als Goalie zum Most Valuable Player auserkoren, ins All-Star-Team gewählt und mit dem Goldenen Schuh prämiert – auch der mentalen Stärke wegen.
Es gibt Sportler, die unter grossem Druck unerschütterlich sind. Roger Federer wirkte in den besten Zeiten wie ein Roboter. Wie geht das?
Federer hatte als Junior Mühe mit Wutausbrüchen, arbeitete aber mit einem Sportpsychologen und lernte, mit diesen Gefühlen umzugehen. Das ist ein Lernprozess – und wenn sich der Erfolg dazugesellt, merkt ein Athlet, dass ihm diese Art der mentalen Arbeit guttut. Solch unerschütterliche Athleten gibt es wenige.
Vom Fussballer Granit Xhaka heisst es oft, er sei unerschütterlich. Wie vermittelt man einem solchen Athleten, dass er noch unerschütterlicher werden könnte?
Im Gespräch würde ich seine Emotionen abfragen – wie es ihm geht, wenn er mit der Nationalmannschaft unterwegs ist; wie er sich in der Rolle als Captain fühlt; was in ihm abgeht in schwierigen Situationen oder bei Fehlern.
Was würden Sie Xhaka als Erstes fragen?
Ich würde fragen, ob er die Möglichkeiten der Sportpsychologie kennt, was er in dieser Hinsicht in zwanzig Jahren Fussball erlebt hat. Danach würde ich fragen, welche Situationen und Momente ihn nerven und stressen. Danach würde ich erklären, was ich beitragen könnte – und erfragen, ob es Dinge gibt, die immer wiederkommen und sich nicht ändern lassen, obwohl er das im Kopf möchte. Das sind Blockaden, die sich oft ziemlich rasch lösen lassen.
Wie äussern sich solche Blockaden?
Ich arbeitete zum Beispiel mit einem Judoka, der sich nach auskurierter Armverletzung nicht mehr traute, voll zu ziehen. Dieses Problem war nach zweimal zwanzig Minuten erledigt. Punktuelle Sachen, wie Wettkampfangst, lassen sich rasch beheben. Wenn weitere Komponenten wie eine schwierige Kindheit oder widrige Umfeldfaktoren dazukommen, geht es nicht ganz so schnell.
Wovor haben Sportler am meisten Angst?
Sie haben Angst zu versagen, Angst, Trainingsweltmeister zu bleiben – und sie haben Angst davor, wie die Öffentlichkeit die Leistung bewertet. Ein grosses Thema ist auch der Übergang in die nachsportliche Karriere. Athleten brauchen eine Betreuung über ihren Rücktritt hinweg, um in der neuen Welt Fuss zu fassen.
Aber es ist keine Existenzangst?
Ausgesprochen wird finanzielle Existenzangst kaum. Zudem verdienen ja nicht alle Athleten genug mit dem Sport. Noch vorher kommt zum Beispiel die Angst, den Trainer zu enttäuschen, was ich für einen schwierigen Loyalitätskonflikt halte. Dieses Phänomen kommt in Einzelsportarten öfter vor. Ich versuche, den Athleten klarzumachen, dass der Trainer bezahlt wird, dass es sein Job ist – und dass es um die Medaille des Athleten, nicht des Trainers, geht.
Wie ungesund ist Spitzensport für die Psyche?
Es gibt die ganze Bandbreite, aber wenn Spitzensport psychisch nicht gut aufgefangen wird, ist er schon nicht sehr gesund. Sportler sind in der Regel stressresistenter, lassen sich weniger aus dem Konzept bringen, können besser organisieren. Diese Eigenschaften helfen auch im normalen Leben. Negativ kann sein, dass ein immer wieder kritisierter Athlet kaum mehr Selbstvertrauen aufbauen kann, in ein Burnout läuft oder übertrainiert ist. Gerade im Jugendalter besteht die Gefahr, dass Athletinnen verinnerlichen, sie seien nichts wert. Ich hatte zum Beispiel den Auftrag, dafür zu sorgen, dass eine Kunstturnerin des Nationalteams weniger vom Balken fällt. Nach einer Übung fragte ich sie, was sie gut gemacht hatte.
Und?
Sie selber konnte nur Kritik an ihrer Leistung äussern – zur Frage, was ihr gut gelungen war, fiel ihr nichts ein. Das finde ich schlimm, ist aber sinnbildlich für eine defizit- und fehlerorientierte Sozialisation im Sport.
Der Sport wird oft als Lebensschule bezeichnet. Wo liegt die Grenze zwischen Lebensschule und Schädigung?
Dort, wo die Athleten nicht mehr handlungsfähig sein dürfen. Dieses hilflose Gefühl, dem Coach ausgeliefert zu sein, ist bei einem Kind zu hundert Prozent da. Schon rein durch die Hierarchie zwischen Trainer und Athlet. Aber in kompositorischen Sportarten wie Synchronschwimmen, Kunstturnen oder Turmspringen stehen auch ältere Athletinnen stundenlang in der Halle, und jeder Moment des Trainings wird vorgegeben. Die Sportlerinnen verinnerlichen dadurch Glaubenssätze wie «Ich darf nur das machen, was der Trainer sagt», «Ich darf nichts anderes wollen», «Ich muss mich stark fühlen». Kein Kunstturner sagt, das Knie tue weh, er mache Pause, nein, er beisst auf die Zähne. Das ist einfach nicht gesund. Die Athleten lernen nicht, Nein zu sagen, sich abzugrenzen oder die eigenen Bedürfnisse zu spüren.
An wie vielen Orten ist sportpsychologische Betreuung schon institutionalisiert – und wo ist sie immer noch eine Holschuld der Athleten?
Ganz genau weiss ich das nicht. Aber ich bin überzeugt, dass sie vor allem eine Holschuld ist. Die Verbände machen oft ein Geheimnis daraus, wie sie sportpsychologisch aufgestellt sind.
Warum?
Sportpsychologie ist noch immer zu stark negativ konnotiert und wird mit Problemen und Versagen gleichgesetzt . . .
. . . was beim besten Willen schwer verständlich ist. In unserem Sprachraum ist Sportpsychologie seit bald zwanzig Jahren in der Öffentlichkeit ein Thema, es gibt erfolgreiche Beispiele wie die deutsche Fussballauswahl, wie die erwähnten Fussballer Sommer, Streller und Stocker, wie Federer, wie die Skirennfahrerin Michelle Gisin – und Sportpsychologie soll immer noch ein Akzeptanzproblem haben?
Das liegt auch an ganz anderen Dingen, wie beispielsweise den Finanzen. Die erste Frage ist immer: Wie viele Stunden braucht es, und wie viel kostet eine Stunde?
Wie viel kostet eine Sitzung bei Ihnen?
Als Selbständige bekomme ich 200 Franken für 50 Minuten, das ist ein ähnlicher Tarif wie bei anderen Psychotherapeutinnen, und ich weiss, dass es viel Geld ist. Ich weiss aber auch, dass die Athleten dafür viel bekommen. Es ist eben mehr als ein bisschen plaudern – es geht um Strategien, Resilienz und Ziele, aber vor allem darum, Blockierendes aus der Welt zu schaffen. Verbände, die lieber mehr Funktionäre auf ein Reisli mitnehmen, müssten sich vielleicht überlegen, ob sie im Budget die richtigen Prioritäten setzen. Aber die Sportpsychologie hat leider drei Probleme.
Nämlich?
Es ist teuer, man sieht es nicht so richtig – und ich kann keinem Athleten eine Goldmedaille garantieren.