Meistermacher Breitenreiter
«Dank ihm glaubt ein Team ans Unmögliche»
Selten ist ein Trainer zu einem solchen Glücksgriff geworden wie André Breitenreiter beim FC Zürich. Eine Würdigung seiner meisterlichen Arbeit mit Erklärungen alter Weggefährten.
Florian RazThomas Schifferle
Thomas Schifferle, Florian Raz
Publiziert: 22.05.2022, 20:02
Strahlt, als wäre er gerade Vater geworden: FCZ-Trainer André Breitenreiter und die Meistertrophäe.
Foto: Urs Jaudas
André Breitenreiter: Mit Empathie und Entschlossenheit
Wie das Gefühl auf einem Balkon ist, das kennt André Breitenreiter von 2014 und 2017. Da jubelte er als Trainer nach den Aufstiegen mit Paderborn und Hannover den Fans zu. «Das sind besondere Momente, die man nicht vergisst», sagt er.
Seit diesem Sonntagnachmittag kennt er noch ein Gefühl, das er möglicherweise nie vergessen wird: wie es ist, einen Meisterpokal in die Höhe zu stemmen. Nach dem 2:3 gegen Luzern im Letzigrund ist es so weit. Der Trainer des FC Zürich strahlt, als wäre er gerade Vater geworden.
«Von mir aus könnte diese Saison gerne noch länger gehen», sagt er in diesen Tagen. Er möchte offensichtlich weiter aufsaugen und schweben, weiter mit diesen Emotionen leben, die den ganzen Verein schon seit Monaten tragen. Es sei unfassbar, wie sich der FCZ entwickelt habe, sagt er. Nur ist im Moment höchst ungewiss, wie lange er sich weiter daran erfreuen will. Bundesligist Hoffenheim ruft offensichtlich nach seinen Diensten.
Die Entwicklung in Zürich hat ganz viel mit ihm zu tun. Als Sportchef Marinko Jurendic im vergangenen Juni erstmals mit ihm per Video-Call redet, weiss er nach einer Stunde: «Das ist er.» Als die Canepas, Heliane und Ancillo, ihm wenige Tage später erstmals in ihrem Büro gegenübersitzen, wissen sie nach ein paar Minuten: «Das passt. Die Chemie stimmt.»
Und wie es passt – so gut, als liesse sich Erfolg planen. Breitenreiter überzeugt vom ersten Tag mit seiner Art, auf die Spieler zuzugehen, mit ihnen zu reden, das aus ihnen rauszuholen, was sie können. Mirlind Kryeziu und Assan Ceesay sind die besten Beispiele, wie er Spieler besser machen kann. Blerim Dzemaili macht er klar, dass er gar nicht jeden Match spielen müsse, um wichtig für die Gruppe zu sein. Dafür muss er ihm keinen Roman erzählen, seine Überzeugungskraft genügt.
Breitenreiter zeichnet aus, dass er nicht das Gefühl hat, er müsse ein Mini-Guardiola sein und dauernd am System herumtüfteln.
«Er ist ein genialer Trainer», sagt Ancillo Canepa über den 48-Jährigen aus Hannover. Breitenreiter zeichnet aus, dass er nicht das Gefühl hat, er müsse ein Mini-Guardiola sein und dauernd am System herumtüfteln. Er wählt eines, das am besten zur Mannschaft passt, und daran hält er konsequent fest. Jeder weiss, wie sie unter ihm spielt. Aber solange es in dieser Saison zählt, wird kaum ein Gegner mit der Intensität fertig, die Breitenreiter ihr verliehen hat.
Das Glück des FCZ ist, dass er sich über Monate in Ruhe entwickeln kann. Selbst als er schon mit vielen Punkten in Führung liegt, wird er hier und da als Meisterkandidat nicht richtig ernst genommen. Er nützt das für sich aus und wächst immer weiter, sein Kreuz wird immer breiter und sein Selbstvertrauen immer grösser. Bis er am 1. Mai mit dem 2:0 in Basel schon vier Runden vor Saisonende den Titel gesichert hat.
Breitenreiter hat die Pressekonferenzen vor einem Spiel mit seinen Erzählungen und Erklärungen bereichert, er hat sie nie als Pflicht empfunden, sondern als Weg, um seine Gedanken näherzubringen. Alle, die ihn beim FCZ kennen gelernt haben, sind angetan von seiner Empathie, seiner Art, auf Menschen zuzugehen. «Ich weiss, welche Werte mir meine Eltern vermittelt haben», sagt er. Die Werte heissen: Respekt und Anstand.
Das heisst nun nicht, dass er seinen Spielern gegenüber nicht fordernd und unangenehm sein kann. So sagt er das selbst. Aber eines ist für ihn in seiner Arbeit zentral: «Immer einen gemeinsamen Nenner zu haben und mit dieser Gemeinsamkeit zum Ziel zu kommen.»
Stefan Pralle: «Das waren Gänsehautmomente»
Stefan Pralle kann sehr überzeugend sein. Und weil er diese Fähigkeit besitzt, hat er den Weg von André Breitenreiter gleich zweimal verändert. Erst 2009, als Breitenreiter seine Karriere als Fussballer beenden wollte – und ihn Pralle zu einem letzten Hallali beim TSV Havelse in der fünfthöchsten Liga Deutschlands überredete. Und dann zwei Jahre später, als Pralle ihn zum Trainer machte, obwohl Breitenreiter zunächst dankend ablehnte.
Klar, sagt Pralle heute. Natürlich könnte er sich als «Entdecker» des Zürcher Meistertrainers feiern lassen: «Aber das hätte später auch jemand anderes getan.» Zu klar ersichtlich sind für ihn Breitenreiters Fähigkeiten in der Menschenführung: «Der André hätte auch neben dem Fussballplatz eine erfolgreiche Karriere gemacht.»
Den Fussballer Breitenreiter wollte Pralle in seiner Mannschaft, weil er wusste, «wie ambitioniert er in allem ist, was er tut. Er überträgt das wie ein Virus auf sein Umfeld.» Prompt stieg Havelse in Breitenreiters letzter Saison als Spieler in die vierte Liga auf.
Stürmer wie in seiner jüngeren Zeit war der damals 36-Jährige schon nicht mehr. «Eher die ordnende Hand», wie es Pralle nennt. Wobei Breitenreiter keiner war, der 90 Minuten lang auf dem Feld herumbrüllte. «Er hat das auf subtilere Art gemacht», erzählt Pralle, «er ist einer, der immer den persönlichen Dialog sucht.»
So ist es für den Geschäftsführer von Havelse keine Frage, an wen er sich wenden muss, als sein Team ein halbes Jahr nach dem Aufstieg vor dem fast sicheren Wiederabstieg steht: «Ich musste jemanden haben, der ein Wunder zustande bringt, den Club und seine limitierten Möglichkeiten kennt.» Für Pralle ist klar: Das kann nur André Breitenreiter sein.
Der will erst nicht. Kommt dann doch. Und liefert. Erst wird der Abstieg verhindert. Als er nach zweieinhalb Jahren geht, steht Havelse knapp vor dem Aufstieg in die 3. Liga. «Es war schnell klar, dass da jemand Menschen fangen kann», sagt Pralle, «er bringt eine Mannschaft dazu, an Dinge zu glauben, die eigentlich gar nicht möglich sind.»
Nach dem knapp verpassten Aufstieg steht fest: Breitenreiter muss weiterziehen, will er sich weiterentwickeln. Trotzdem hinterlässt er etwas Bleibendes. Seine Trainings hält er auf Feldern ab, «die als Rasenplätze gar nicht erkennbar waren», wie Pralle schildert. Breitenreiter beklagt sich nicht. «Aber er hat immer den Wunsch, dass sich die Dinge entwickeln.»
Also streckt sich Havelse finanziell und baut einen Kunstrasen. Als der steht, ist der Trainer zwar bereits weg. Aber der Club profitiert bis heute von seiner Forderung.
Breitenreiter und Pralle sind bis heute im Kontakt. Und wenn Letzterer an die gemeinsame Zeit bei Havelse zurückdenkt, erinnert er sich vor allem an die Ansprachen des Trainers: «Es war immer wieder ein Erlebnis, wenn er mit dem Team im Kreis gesprochen hat. Dieses Menschenverständnis. Das waren Gänsehautmomente.»
Horst Heldt: «Ich weiss ja, wie gut er arbeiten kann»
Nach Havelse hiess André Breitenreiters nächste Station Paderborn, 2. Liga, ein kleiner Club. Im ersten Jahr, 2013/14, führte er ihn in die Bundesliga, im zweiten stieg er mit ihm wohl ab, aber er tat das sehr ehrenvoll. In Schalke beobachtete Sportvorstand Horst Heldt den Weg Breitenreiters genau, er wollte im Sommer 2015 nach dem gescheiterten Versuch mit Roberto Di Matteo einen neuen Trainer.
«In Paderborn hat André einen richtig guten Job gemacht», erinnert sich Heldt. Ihm hatte es angetan, dass Paderborn unter Breitenreiter mutig und offensiv spielte. Er lernte ihn kennen und fand sofort den Draht zu ihm: vom einen ehemaligen Fussballer zum anderen. Sie teilten die Ansichten von Fussball. Und was Heldt noch heute betont: «Er ist definitiv sympathisch. Und er hat viele Stärken, eine davon ist die Kommunikation.» Es ist die Kommunikation nach innen wie nach aussen, die Heldt auffiel: also der Umgang mit den Spielern und mit der Öffentlichkeit. Heldt redet so von ihm, wie das die Verantwortlichen beim FCZ auch tun.
Zwei, die sich immer verstanden haben: André Breitenreiter und Horst Heldt (links) während ihrer Zeit bei Hannover 96.
Zwei, die sich immer verstanden haben: André Breitenreiter und Horst Heldt (links) während ihrer Zeit bei Hannover 96.
Foto: Getty Images
Mit Breitenreiter kam Schalke auf Platz 5 und in die Europa League. Das war nicht gut genug für ihn, um weiterzumachen. Zu seinem «Verhängnis» (Heldt) wurde zum einen der Umbruch, den der Verein einleitete. Heldt musste für den Mainzer Christian Heidel Platz machen. Zum anderen fehlte Breitenreiter bei der in Schalke einflussreichen «Bild» die Lobby. «Die Zeitung wollte einen grossen Namen als Trainer, aber dann kam André», sagt Heldt, «er führte darum ein Jahr lang einen Kampf gegen Windmühlen.» Breitenreiter verlor ihn.
Als Heldt im März 2017 als Sportdirektor nach Hannover wechselte, erinnerte er sich an Breitenreiter und verpflichtete ihn, um den stockenden Aufstiegskampf neu zu beleben. Mit Breitenreiter gelangen Hannover der Endspurt, die Rückkehr in die Bundesliga und danach der souveräne Ligaerhalt, «diese Saison war grandios», sagt Heldt. Das Problem war der folgende Sommer, Hannover verstärkte sich nicht so, wie es der Trainer wünschte. Ein halbes Jahr später musste Heldt ihn «wegen fehlender Resultate» entlassen, drei Wochen später war auch er seinen Posten los.
«Dass er mit einer No-Name-Mannschaft Erfolg hat, macht alles noch eindrucksvoller.»
Horst Heldt
Heldt, im Moment ohne Club, hat den Weg von Breitenreiter in Zürich verfolgt. «Die Konstanz, die der FC Zürich gezeigt hat, hat viel mit ihm zu tun», sagt er. «Ich weiss ja, wie gut er arbeiten kann, wie es ihm gelingt, sich in die Köpfe seiner Spieler zu versetzen. Und dass er, wenn man so sagen darf, mit einer No-Name-Mannschaft Erfolg hat, macht alles noch eindrucksvoller.» Und dann redet er von Dzemaili, Ceesay oder Kryeziu, die unter Breitenreiter ein Niveau erreicht hätten, auf dem sie vorher nicht gewesen seien.
Er freut sich «unfassbar» für Breitenreiter. Und auch er stellt sich die Frage, wo Breitenreiter nächste Saison arbeitet. «In Deutschland hat jeder mitbekommen, dass er jetzt in der Schweiz Meister geworden ist», sagt er. Und als er hört, dass Ancillo Canepa ein gutes Gefühl hat und glaubt, dass Breitenreiter bleibt, sagt er schon vor einigen Tagen schelmisch: «Der Präsident sollte sich nicht zu sicher sein …» Es sieht ganz danach aus, als würde Heldt bei Breitenreiter das bessere Gespür haben.
Dritte Halbzeit – der Tamedia-Fussball-Podcast
Abonnieren Sie den Podcast auf Spotify, Apple Podcast, Google Podcasts, Overcast oder Podcast Republic. Falls Sie eine andere Podcast-App nutzen, suchen Sie in dieser am besten nach «Dritte Halbzeit» oder nutzen direkt den RSS-Feed (Browser-Link kopieren).