Beitragvon Arafat Abou Chaker » 11.03.20 @ 12:46
Spannender Artikel im Tagi von Florian Raz
Dort wo es nach dem Spiel knallte, steht heute eine Bar
Im Prozess um Fussball-Krawalle in Basel fällt nun das Urteil. Der Fall zeigt, dass es überraschende Wege gegen Fangewalt gibt.
Sie treffen sich mitten im Sturm. Keine 24 Stunden zuvor hat es rund um das Stadion des FC Basel geknallt. Während die Vertreter von Polizei und FCB und Fanarbeit reden, zirkulieren im Internet Videos, auf denen zu sehen ist, wie vermummte Männer Polizisten angreifen. Und wie diese Gummischrot in die Menge feuern. Neun Polizisten sind verletzt worden. Ein Polizeifahrzeug wurde in Brand gesteckt.
Nun sitzen sie also da, um Antworten zu finden. Draussen läuft jenes Spiel, das immer losgeht, wenn in der Schweiz rund um eine Fussballpartie etwas geschieht. In den Onlinekommentaren gibt es gute Tipps. Aussperren! Einsperren! Steine klopfen lassen! Parteien wie die CVP verschicken Pressemitteilungen: «Sollten Polizisten auch innerhalb des Stadions anwesend sein?» Der Polizeibeamtenverband verkündet: «Die Frust im Korps ist gross.»
Die Bar hinter der Muttenzerkurve soll deeskalieren. Foto: Andy Mueller (Freshfocus)
Der Druck auf die Menschen in der Krisensitzung ist enorm. Sie einigen sich unter anderem darauf, eine Bar zu eröffnen.
Fast vier Jahre sind seither vergangen. Am Donnerstag wird das Urteil im Prozess gegen 16 mutmassliche Gewalttäter jenes Nachmittags verkündet. Es entspricht den Wellenbewegungen der Empörung rund um Fangewalt, dass ohne dieses Gerichtsverfahren kein Unbeteiligter mehr an die Krawalle vom 10. April 2016 zurückdenken würde.
Dabei könnte die Schweiz durchaus etwas daraus mitnehmen, was in Basel nach jenem Gewaltausbruch geschehen ist. Und auch daraus, was nicht geschehen ist. Es geht um den Verzicht auf Aktionismus. Und um die Frage nach Schuld und Sühne, die die Beziehung zwischen Polizei und Fans in den Schweizer Kurven vergiftet.
Die Versuchung lockt den Politiker
Natürlich hört auch Baschi Dürr die Forderungen nach einer schnellen Patentlösung gegen Fangewalt. Der FDP-Mann steht in jenem April im Wahlkampf. Als basel-städtischer Polizeidirektor könnte er sich mit markigen Worten profilieren. Er gibt im Rückblick offen zu: «Da gibt es die Gefahr des politischen Schnellschusses.» Aber er sagt auch: «Ich mag keine Symbolpolitik.»
Diese versuchen sie in der Nordwestschweiz im Umgang mit Fans schon so lange zu verhindern, dass sich der Name «Basler Weg» eingebürgert hat. Es geht dabei um sehr viel Dialog – und weniger um Repression. Polizeidirektor Dürr sagt: «Es ist eine politphilosophische Frage, wieweit sich ein Politiker profilieren kann, wenn er nichts tut.»
Wobei – gar nichts geht schon nicht. Die Basler versuchen eine Art Dreisprung. Erst wird Gewalt öffentlich verurteilt. Dann werden harte und weiche Massnahmen wie eine neue Videoüberwachung oder eine Bar für Fans angekündigt und auch eingeführt. Schliesslich sollen Täter bestraft werden. «Wichtig ist eine konkrete Strafverfolgung, die nicht alle trifft. Sondern jene, die etwas angestellt haben», sagt Dürr.
Kann die Anwesenheit von Polizisten Gewalt auslösen, die es ohne sie nicht gegeben hätte?
An diesem Punkt – vor Gericht also – ist nun der Krawall von 2016 angelangt. Doch was wie ein logischer Abschluss wirkt, könnte eine ganz andere Wirkung auf das Zusammenleben von Fans in der Kurve und Polizisten haben. Dieses ist durch ständig wiederkehrende Konfrontationen sowieso angespannt. Beat Meier, langjähriger Sicherheitschef des FC Basel, stellt fest: «Frustpotenzial gibt es bei den Fans und bei der Polizei.» Und jetzt hoffen beide Seiten auf eine Art von Gerechtigkeit, die sich gegenseitig praktisch ausschliesst.
Im «Blick» gibt Johanna Bundi Ryser zum Prozessbeginn das Sprachrohr der genervten Polizisten: «Wir haben das Vertrauen in unsere Justiz verloren.» Die Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter fordert: «Ich hoffe, die FCB-Chaoten werden hart bestraft.» In der Muttenzerkurve klingt es naturgemäss etwas anders. Nicht, dass Freisprüche für bewiesene Gewalttaten erwartet werden. Aber viele Fans wünschen sich, dass die Richterin auch das Vorgehen der Polizei kritisch betrachtet. Für die Kurve liegt der Ursprung der Krawalle bei einem ungewohnten Auftritt einer Gruppe Polizisten beim Stadionausgang direkt nach Spielschluss.
Damit stellt der Prozess auch eine Frage, die für die Polizistenvertreterin Bundi Ryser nichts mehr ist als «eine billige Ausrede der Fussballchaoten»: Kann die Anwesenheit von Polizisten Gewalt auslösen, die es ohne sie nicht gegeben hätte?
«Gewalt bei Matches entsteht nur selten durch Schläger, die aktiv Gewalt suchen. Und fast immer durch Gruppendynamiken.»
Clifford Stott, Professor für soziale Psychologie
Genau darum geht es Clifford Stott. Ein Murren geht durch den Saal, als der britische Professor für soziale Psychologie an der Universität Bern spricht. Die Uni lädt im Mai 2019 zu einem Symposium zum Thema Fangewalt, auf den Rängen sitzen Polizisten aus praktisch allen Schweizer Kantonen. Stott sagt: «Wir müssen von der Vorstellung wegkommen, dass die Fussballfans das Problem sind.» Dann fixiert er das Publikum und ruft: «Sie sind das Problem!»
Natürlich mag Stott eine kleine Provokation. Aber er stützt sich auf Erkenntnisse der Massenpsychologie. Er hat erforscht, was passiert, wenn die Polizei eine Ansammlung von Menschen einheitlich als Gruppe behandelt – und nicht als Individuen: «Dann kann Gewalt plötzlich als legitimes Mittel zur Selbstverteidigung gelten. Auch bei Personen, die Gewalt sonst ablehnen.»
Stott hat die Uefa beraten, seine Arbeit hat die Taktik der britischen Polizei bei Demonstrationen und Fussballspielen verändert. Er weiss, dass seine Vorschläge bei Polizisten zu Beginn oft auf wenig Gegenliebe stossen. Darum sagt er: «Es ist keine Frage von Schuldzuweisungen. Sondern von wissenschaftlichen Fakten. Gewalt bei Matches entsteht nur selten durch Schläger, die aktiv Gewalt suchen. Und fast immer durch Gruppendynamiken.»
Dieses Wissen fliesst durchaus schon in die Schweizer Polizeiarbeit ein. Es geht um den schwierigen Begriff der Verhältnismässigkeit. «Die zu erklären, ist eine der grössten Herausforderungen eines Polizeidirektors», sagt Dürr. Und versucht es dann so: «Es geht um die Frage, ob vermutete Kollateralschäden grösser sind als das Delikt selber.»
Unbeteiligter verliert Augenlicht
Auf den Basler Gewaltausbruch umgemünzt, geht es etwa darum: Ist es verhältnismässig, in dem Moment Gummischrot einzusetzen, in dem rund 10'000 Menschen an einem beengten Ort aus dem Stadion strömen?
Die Staatsanwaltschaft beantwortet diese Frage mit Ja. Recht früh im Verlauf der Krawalle verliert ein Unbeteiligter sein Augenlicht, als er von einem Gummigeschoss getroffen wird. Obwohl er den vorgeschriebenen Mindestabstand nicht eingehalten hat, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Polizisten ein, der geschossen hat. Dieser habe «im Notstand» gehandelt – und deswegen «verhältnismässig».
Solche Beurteilungen werden in der Kurve registriert. Und sie haben Einfluss auf das Verhalten der Fans. Umso mehr Gewicht hat das nun erwartete Urteil. Denkt die Kurve, alle Angeklagten würden einheitlich hart angefasst, um ein Zeichen zu setzen, wächst ihr Groll gegen die Polizei. Fallen die Urteile aus Sicht der Polizei zu sanft aus, wachsen auf ihrer Seite die Animositäten.
Die Bar ist ein Symbol
Während der Prozess also das Konfliktpotenzial vergrössern kann, steht seit kurzem exakt am Ort der Krawalle jene Bar, die noch in der ersten Krisensitzung beschlossen wurde. Finanziert und betrieben wird sie von den Fans, die allfällige Gewinne spenden.
Es gibt Leute, die die Eröffnung als Belohnung für gewaltbereite Chaoten sehen. Dürr aber sagt: «Diese Bar ist mir ein Anliegen.» Weil er nicht an die eine Lösung im Kampf gegen Gewalt bei Fussballspielen glaubt. Er meint: «Es braucht Repression und technische Hilfen. Aber auf Dauer sind niederschwellige Angebote erfolgreicher.»
Und so stehen sie jetzt dort auf der Plattform, drei Container, zu einer Bar ausgebaut. Als ausgestreckte Hand für ein friedlicheres Zusammenleben.