Quelle: NZZ
Plötzlich ist Stephen Odey die neue Zürcher Sturmhoffnung
Stephen Odey wechselte vor einem Jahr zum FC Zürich, ein Teenager aus Nigeria. Weil im Zürcher Kader nur zwei Stürmer sind, ist der 20-jährige unverhofft zum Stammspieler avanciert. Aber wer ist er überhaupt?
Du bist 20, du bist in der Schweiz, und du bist plötzlich jener Stürmer, der ständig spielt. «Und du bist so: wow», sagt Stephen Odey.
Vor genau einem Jahr verschickte der FC Zürich eine Mitteilung: Odey sei jetzt spielberechtigt. Ein Teenager aus Nigeria, ein Stürmer, aber da waren ja noch Moussa Koné, Raphael Dwamena, Michael Frey, Dzengis Cavusevic. Ein Jahr später sind sie alle weg, und weil sich der Zuzug Assan Ceesay verletzt hat, ist Odey vor dem zweiten Europa-League-Spiel gegen Ludogorez Rasgrad wohl wieder einmal der einzige FCZ-Stürmer.
Odey stammt aus Lagos, der grössten Stadt Nigerias. Der Vater war im Militär, Odey sagt, er habe nicht gewollt, dass der Sohn Fussball spiele. Und trotzdem ging er immer wieder hinaus, spielte mit den Freunden, und wenn der Vater am Platz in der Nähe des Hauses vorbeilief, befahl er: «Stephen, komm nach Hause.» Der Sohn sollte lieber Actionfilme schauen, denn das würde ihn einmal erwarten im Leben, sagte der Vater, er sah dessen Zukunft ebenfalls im Militär. Der Vater starb, als Odey 15 war, mit 18 gab Odey sein Debüt in der nigerianischen Liga, mit 19 war er ihr bester Torschütze, und er bekam ein Aufgebot für die Nationalmannschaft. Und dann ging es schnell.
«Kein Millionentransfer»
«Normalerweise bekommen wir über Monate ein Gefühl für einen Spieler», sagt der Zürcher Sportchef Thomas Bickel, «wir beobachten ihn an Ort, schauen, wie sein Charakter ist, ob er zu uns passt. Bei Stephen ging das nicht.» Erst Stunden vor Ende des Transferfensters verpflichtete der FCZ Odey im Sommer 2017, bis um Mitternacht müssen beide Klubs so einem Transfer online zustimmen. Weil er Probleme mit dem Internet hatte, konnte Odeys Klub MFM FC nicht rechtzeitig auf die betreffende Datenbank zugreifen und den Transfer bestätigen – deshalb wurde Odeys Wechsel erst im Oktober offiziell, als die Fifa einlenkte. «Er war kein Millionentransfer, eher ein Spieler für die Zukunft», sagt Bickel. Aber natürlich, da bleibe ein Risiko. Bickel sagt, er habe sich auf sein Netzwerk verlassen, Menschen, denen er vertraue.
Es geht um den nächsten Millionen-Deal
Odey kommt aus einem Land, das viele Fussballer exportiert, laut einer Studie der Uni Neuenburg so viele wie kein anderes afrikanisches Land. «Viele nigerianische Fussballer sehen oft zuerst das Geld», sagt Odey, «wegen der Lebensbedingungen in Nigeria, die wollen sie hinter sich lassen.» Wenn man jung ist und Top-Torschütze und Nationalspieler, dann wollen in Nigeria alle etwas von einem. «Es sind viele Agenten, sie kommen aus dem Nichts, die meisten sind nicht sehr professionell», sagt Odey, «sie lassen dich irgendwelche Verträge unterschreiben, viele Spieler kommen deswegen in Schwierigkeiten.» Die Agenten warten vor dem Hotel des Nationalteams und bieten Geld. Sie versprechen viel. Odey flog mit einem Agenten nach Dänemark zum FC Midtjylland. Nigerianische Medien haben die Episode ausgebreitet und ausgeschmückt: Odey war in Europa, sein Klub wusste nichts davon, er beorderte den Spieler zurück und drohte mit einer Klage bei der Fifa – Midtjylland war überrascht, ein Transfer kam nicht zustande. «Der Agent sagte mir etwas in Nigeria und etwas anderes, als ich in Dänemark war. Es war verrückt», sagt Odey.
Drei Monate später wechselte Odey nach Zürich. Auch er sagt, er habe sich auf Menschen verlassen, denen er vertraue, «wenn du sofort auf die ganz grosse Bühne willst, fällst du vielleicht hinunter».
Nicht übers Leben reden
Bickel sagt: «Ein Stürmer, den man direkt aus Nigeria holt, muss langsam ans höchste Niveau herangeführt werden. Er braucht eine gewisse Integrationszeit.» Odey musste sich an Zürich gewöhnen, er muss das noch immer: «Ich bin jung – oh, manchmal ist es wirklich schwierig», das Leben steckt voller Entscheidungen, und Odey muss sie jetzt allein treffen: Was kochen nach dem Training? In Nigeria kam er nach Hause, und die Mutter hatte das Essen parat. Jetzt lebt er allein. In Nigeria fragte er die Teamkameraden um Rat, hier hat er niemanden – Dwamena war eine Bezugsperson, der ist weg. Er rede schon mit den anderen in der Mannschaft, sagt Odey. Aber es sind nicht die tiefen Gespräche, die Gespräche übers Leben.
Odey hätte schon etwas zu erzählen über das Leben. Er bewundert George Weah, einziger afrikanischer Weltfussballer, Stürmer aus Liberia und jetzt Präsident des Landes. Als Weah gewählt wurde, twitterte Odey: «Ich möchte der nächste George Weah werden.» Heute sagt er: «Das heisst nicht, dass ich Präsident werden will. Aber ich möchte auch abseits des Fussballplatzes etwas bewegen.» Er unterstütze die Menschen, die ihm nah seien, die Mutter, den Bruder, die Schwester, aber auch andere Menschen, ein Waisenhaus; wenn er in Lagos sei, bringe er Essen und Kleider vorbei. «Ich sehe das so: Egal was du machst, es wird immer Leute geben, die sich über dich beschweren, und solche, die sich nicht beschweren. Ich will einfach, dass es einmal mehr Leute gibt, die sich nicht beschweren.»
Vor dem ersten Europa-League-Spiel befürchtete der FCZ-Trainer Ludovic Magnin, es könnte alles ein bisschen viel sein für einen 20-Jährigen; die Verantwortung, plötzlich die Lücke zu füllen, die andere hinterlassen haben. Der FCZ schiesst zu wenig Tore, erst acht in der Liga, Odey ist nach neun Runden mit der beste Torschütze, dafür reichen zwei Super-League-Tore. Odey sei schon der Goalgetter-Typ, sagt der Sportchef Bickel, er habe es aber noch nicht immer zeigen können. «Natürlich hätte ich gerne noch einen dritten Stürmer. Es ist nicht ideal so», sagt Bickel, Freys überraschender Abgang sei schwierig abzufedern gewesen.
Jetzt ist er da, Odey, 20-jährig, zwei Ligatore, und sagt, er wolle noch mehr zeigen, das sei nicht alles gewesen – «und du bist so: wow».