Beitragvon Tschik Cajkovski » 14.11.22 @ 7:55
NZZ, Stephan Ramming:
Der Zürcher Fussball ist am Leiden – und trotzdem ist er quicklebendig
Die Grasshoppers und der FC Zürich setzen in den letzten Partien vor der WM-Pause zwei positive Ausrufezeichen – nach einer wenig erfreulichen ersten Saisonhälfte.
Geht doch: Vor der grossen WM-Winterpause blicken die beiden Zürcher Klubs auf ein erfolgreiches Wochenende zurück. Die Grasshoppers bezwangen am Samstag erstmals seit acht Jahren den FC Basel (1:0), dem FC Zürich gelang am Sonntag gegen Servette ein vielumjubeltes 4:1 gegen Servette, den Tabellenzweiten. Im Letzigrund gibt es zur Dernière noch einmal grosse Gefühle nach einer Saisonhälfte, die beiden Klubs vor allem Leiden, Enttäuschung und Niedergang gebracht hat.
Mit 4 Punkten Rückstand auf den Neunten Winterthur liegt der FC Zürich am Tabellenende, auch die Grasshoppers sind mit 20 Punkten und 8 Zählern mehr als der Stadtrivale nicht an einem Ort in der Rangliste platziert, an dem so etwas wie Zuversicht oder gar Euphorie herrschen würde. Schon gar nicht in den Chefetagen des Besitzerkonzerns Fosun im fernen China, wo man sich angeblich Gedanken machen soll, das Engagement eher frühzeitig zu beenden, als langfristig in die Zukunft zu planen. Der neuerliche Rekurs gegen den Stadionneubau hat die Perspektiven für die Besitzer nicht verbessert.
Unterhaltung und Gesprächsstoff
Der Meister als Tabellenletzter, der Rekordmeister in ungewisser längerfristiger Zukunft – alles in allem liegt die Fussballstadt Zürich trotz zwei positiven Ausrufezeichen zuletzt unter der grauen Nebeldecke des Novembers. Auf beiden Seiten der Geleise hofft man wieder einmal auf etwas Sonne und Licht, im nächsten Jahr, in der Zukunft, irgendwann. So könnte man meinen.
Doch die Lage ist nicht so trüb, wie es aus analytischer Halbdistanz den Anschein machen könnte. Denn die beiden Klubs sorgen nach wie vor für das Wichtigste im Fussball jenseits von Zahlen, Tabellen und Statistiken: für Gesprächsstoff und Unterhaltung. Gerade der FCZ zeigte das nicht nur am Sonntag mit einer plötzlich überzeugenden Leistung, sondern auch in den Wochen und Monaten zuvor mit sportlich wenig Erspriesslichem.
Der Fall vom Meisterthron ans Tabellenende ist eine Geschichte, wie sie nur der Fussball schreiben kann – der FCZ ist besonders gut darin. Diese Geschichte lehrt wieder einmal: Je grösser die Fallhöhe zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, desto grösser ist der Gesprächsstoff, der geboten wird. Die Südkurve formulierte das am Sonntag mit einer eindrücklichen Choreografie so: «Am Boden – ganz oben». Der FCZ hat das in diesen Wochen und Monaten exemplarisch vorgeführt, allerdings in umgekehrter Reihenfolge: von ganz oben hinunter auf den Boden, sozusagen. Aber die Reihenfolge spielt keine Rolle für die Geschichte zwischen Drama und Tragikomödie. Hauptsache, es ist eine Geschichte.
Das ist nicht zynisch gemeint. Zum einen können Zahlen und Fakten nicht zynisch sein. Von den bisher 29 Spielen in dieser Saison gewann der FCZ deren 8, von den 16 Partien in der Meisterschaft bis am Sonntag nur eine einzige. 14 Mal ging der FCZ als Verlierer vom Platz, 7 Mal spielte er unentschieden. Eine Bilanz des Schreckens. Und eine Bilanz, die unwirklich scheint, denkt man an den Anfang im Sommer zurück, als der FCZ als Meister startete.
Hoffnung am Tabellenende
Denn in dieser Bilanz steckt mehr als etwa die Geschichte vom Scheitern des Trainers Franco Foda, der die Mannschaft von André Breitenreiter übernommen hatte. Und es steckt auch mehr darin als etwa der Penalty von Antonio Marchesano, der in Bern nach einer Stunde auf Augenhöhe im ersten Match gegen YB die Dinge im FCZ vielleicht in eine andere Richtung gelenkt hätte, wenn der Spielmacher damals getroffen hätte. Es war der Anfang der Geschichte, die nun mit dem Sieg gegen Servette plötzlich einen positiven Schlussakzent bekommen hat.
Bis dahin drehte sich das Gesprächsthema in der Stadt stets um die Frage, weshalb niemand über GC spricht und wie es denn möglich sein kann, dass der FCZ, statt dauernd zu gewinnen, nun plötzlich dauernd verliert. Denn darum geht es am Ende: dass der Fussball Momente und Geschichten liefert, welche die Menschen bewegen. Das ist dem FCZ vortrefflich gelungen. Denn Fussball verhandelt nicht das Gelingen, sondern das Scheitern. Wie das Leben.
Deshalb ist die Lage ganz ähnlich wie vor elf Monaten, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Als im Dezember 2021 die Hälfte der Meisterschaft gespielt war, schwebte die zarte Hoffnung über dem FCZ, dass er vielleicht sogar Meister werden könnte, wenn er so weitermacht. Nun ist es die Hoffnung, dass er vom Tabellenende wegkommt, wenn er so weitermacht wie im letzten Spiel gegen Servette. Leiden, Bangen, Hoffen. Der Fussball lebt in Zürich.
"we do these things not because they are easy, but because they are hard" jfk