Beitragvon tadaeus » 25.04.22 @ 18:06
Aus der heutigen NZZ:
Die Pfeife der Nation – oder: Wie viel kostet ein Schiedsrichter?
Vor 25 Jahren erschütterte ein Bestechungsskandal den europäischen Fussball. Mittendrin stand der Schweizer Kurt Röthlisberger, ein Schiedsrichter von Weltruf. Alles nur ein Missverständnis? Ein Blick zurück.
Marc Tribelhorn
25.04.2022, 05.30 Uhr
«Lächerlich kleine Summe»: der Schiedsrichter Röthlisberger während des Champions-League-Finals 1993 zwischen der AC Milan von Torjäger Marco van Basten und Olympique Marseille.
Wenn Behörden den Ball flach halten wollen, veröffentlichen sie brisante Communiqués gerne zur Unzeit – freitags gegen Feierabend oder vor Feiertagen. So verschickt der europäische Fussballverband Uefa am Gründonnerstag des Jahres 1997 eine Meldung, die es in sich hat: Der Schweizer Spitzenschiedsrichter Kurt Röthlisberger wird wegen versuchten Wettspielbetrugs gesperrt. Lebenslänglich.
Mehrmonatige Untersuchungen hätten ergeben, dass Röthlisberger vor der Champions-League-Partie zwischen dem Grasshopper-Club und Auxerre im Oktober 1996 die Manipulation des Spiels angeboten habe. In einem Gespräch mit dem GC-Manager Erich Vogel soll er gesagt haben, er kenne den weissrussischen Unparteiischen, der das Spiel leite, und es wäre ein Leichtes, etwas zu arrangieren – für die Kleinigkeit von 100 000 Franken. Der empörte Vogel meldete die delikate Sache der Uefa, «zum Schutz von GC». Und diese begann zu ermitteln.
Nun, sechs Monate später, spricht die Uefa von einem «verwerflichen und bedauerlichen Vorfall». In der halben Fussballwelt hagelt es Schlagzeilen. «Als in höchster Form schädlich muss bezeichnet werden, was dieser Feiertage so alles zusammengekommen ist an Verdorbenem und Angefaultem im Osternest des Schweizer Fussballs», kommentiert die NZZ.
Und mittendrin der Referee Röthlisberger, bisher der Inbegriff des Biedermanns. Ein Aargauer Bezirksschullehrer, Familienvater und Hundehalter. Einer, der früher witzelte: «Unter einer Million ist der Röthlisberger nicht zu haben.» Witzelte?
Geschenke und Frauen
Lange Zeit ist der inzwischen 45-Jährige der beste Schiedsrichter des Landes und macht auch auf internationalen Plätzen eine imposante Karriere: Er pfeift an den Weltmeisterschaften 1990 in Italien und 1994 in den USA, an der Europameisterschaft 1992 in Schweden sowie im Europacup. 1075 Partien leitet Röthlisberger bis zu seinem Rücktritt 1996. Schiedsrichter seien «Butler im Dienste des Fussballs», sagt er.
Sein bisheriger Tiefpunkt ist der Wahlkampf für den Nationalrat: Als SVP-Kandidat posiert er 1995 im offiziellen Schiri-Dress des Weltfussballverbands Fifa, was ihm eine kurze Sperre wegen verbotener Wahlpropaganda einbringt. Gewählt wird er auch nicht. Und nun also die Bestechungsaffäre.
Timo Konietzka, ehemaliger Fussballstar, schreibt im «Blick»: «Wir sind zu Recht entsetzt über die Machenschaften von Kurt Röthlisberger. Aber solche Fälle gibt’s auf der Fussball-Welt überall. Und immer wieder. Viele werden nie bekannt.» Tatsächlich häufen sich die Skandale. Je mehr Geld im Fussball fliesst, desto anfälliger ist er für Betrug: In Frankreich wird Bernard Tapie, der Präsident von Olympique Marseille, verurteilt, weil er Spieler und Schiedsrichter «schmierte». 1995 wird Dynamo Kiew aus der Champions League ausgeschlossen, weil der Klub einen Schiedsrichter mit Nerzmänteln bestochen hat. 1996 wird der FC Porto überführt, Unparteiische mit Dollars und Luxusreisen «gekauft» zu haben.
Besonders brisant: In europäischen Wettbewerben oder an Länderspielen werden die Schiedsrichter noch meist von Verantwortlichen der Heimmannschaft betreut. Schon lange gibt es Gerüchte über Geschenke im Hotelzimmer sowie Gratis-Shoppingtouren und Frauen, weshalb die Forderung nach einer Professionalisierung immer lauter wird. Man verspricht sich durch den Profi-Status nicht nur bessere Leistungen der Schiedsrichter, sondern durch bessere Bezahlung auch eine geringere Empfänglichkeit für Annehmlichkeiten aller Art.
Wochenlang das Gesprächsthema in der Öffentlichkeit: Kurt Röthlisberger zu Gast in der «Arena» des Schweizer Fernsehens zum Thema «Korruption im Fussball» vom 11. April 1997.
Zum Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag im Millionengeschäft Fussball hat sich auch Kurt Röthlisberger schon in Interviews geäussert. Als Amateur trainiert er dreimal wöchentlich, opfert Freizeit und Ferien, bekommt dafür aber nur eine «lächerlich kleine Summe», etwa als er den Champions-League-Final 1993 zwischen der AC Milan und Olympique Marseille leitet: «Ich Idiot wurde für drei Tage mit 525 Franken abgespeist und musste in der Schule jemanden anstellen, der meinen Unterricht übernimmt.»
«Blick» in Bond-Manier
Nach Bekanntwerden von Röthlisbergers Sperre an Ostern 1997 spekulieren einzelne Medien bereits: «Waren seine heissesten Flops wirklich nur Pannen?» Erinnert wird an ein übersehenes Hands-Tor im WM-Viertelfinal 1990 zwischen Argentinien und Jugoslawien, an einen nicht gepfiffenen Penalty für Belgien gegen Deutschland an der WM 1994, an den Starspieler Eric Cantona, der nach einem Champions-League-Spiel 1993 tobte, der Schiedsrichter Röthlisberger sei «gekauft» gewesen.
Das Boulevardblatt «Blick» lässt zudem eine Bombe platzen. Der Sportchef berichtet, Röthlisberger habe sich vor dem WM-Qualifikationsspiel Schweiz - Norwegen im November 1996 telefonisch bei ihm gemeldet: «Ich kann dafür sorgen, dass die Schweiz gewinnt. Der Schiedsrichter ist ein Freund von mir. Da kann man etwas machen.» Wieder sei von 100 000 Franken die Rede gewesen. Der «Blick»-Sportchef wittert damals die grosse Skandalgeschichte und überredet Röthlisberger zu einem Treffen. Ausgerüstet mit einem Aufnahmegerät, dessen Mikrofon er an seiner Armbanduhr befestigt, will er den Schiedsrichter in Geheimagenten-Manier auffliegen lassen. Doch die Aufnahme ist von so schlechter Qualität, dass sie nicht als Beweismaterial taugt. Auch der Plan des «Blicks», mit der Credit Suisse, dem Hauptsponsor der Nationalmannschaft, eine Geldübergabe zu arrangieren und Röthlisberger mit versteckter Kamera zu überführen, verläuft im Sand. Erst jetzt, angesichts der Sperre durch die Uefa, macht der «Blick» den dubiosen Fall publik.
Kurt Röthlisberger kontert umgehend und weist jegliche Schuld von sich: «Ich bin das Opfer eines Komplotts» – von GC, der Uefa, dem «Blick». Mit dem GC-Manager Erich Vogel habe er «aus lauter Neugierde» das Thema Bestechung angesprochen. Er habe auch nicht «vollumfänglich gestanden», wie die Uefa mitgeteilt hat, sondern ein handschriftlich und auf Juristenfranzösisch verfasstes Protokoll unterzeichnet, ohne jeden Satz genau verstanden zu haben, sagt Röthlisberger, der als Lehrer unter anderem Französisch unterrichtet hat. Und er droht: «Wenn man auf diesen Entscheid nicht zurückkommt, dann werde ich einiges über die Uefa erzählen.» Er legt Berufung ein.
Im Fall des «Blicks» dreht er den Spiess gar um: Nicht er sei wegen der Partie Schweiz - Norwegen auf das Boulevardblatt zugegangen, sondern dieses auf ihn. Zudem habe ihm ein «Blick»-Journalist einmal «durch die Blume» anvertraut, dass in einem früheren Spiel der Schweizer Nationalmannschaft der Schiedsrichter bestochen gewesen sei – vermittelt von der Zeitung, bezahlt von der Credit Suisse. Ein Vorwurf, den er auch gegenüber ausländischen Medien wiederholt.
80 000 Dollar in bar
So wird der Fall Röthlisberger zum potenziellen Imageproblem für die Grossbank und den Schweizerischen Fussballverband, die beide heftig dementieren – «absurd und unhaltbar!». Der «Blick» hält an seiner Version fest, der Chefredaktor versichert überdies treuherzig: «Wir sind keine Mischler.» Für den GC-Manager Vogel ist die Schuld Röthlisbergers ohnehin längst erwiesen: «Er hat ein umfassendes Geständnis abgelegt – bis ins letzte Detail.»
Doch die Affäre aus Andeutungen, Anschuldigungen, Gegenattacken und Lügen bleibt undurchsichtig und hält die Fussballbehörden auf Trab. Der Uefa-Präsident Lennart Johansson sagt: «Leider beinhalten derartige Gerüchte des Öfteren eine Menge Wahrheit.» Dazu passt auch eine Enthüllung der «Sonntags-Zeitung», wonach Kurt Röthlisberger 1996 in einer Bankfiliale in Aarau eine Lebensversicherung mit einer Einmaleinlage abgeschlossen hat – bezahlt am Schalter mit 80 000 Dollar in bar, damals umgerechnet 100 000 Franken. Ein «Erbschaftsvorbezug», erklärt der Aargauer.
Zumindest in einer Sache herrscht letztlich Klarheit: Die Berufungsinstanz der Uefa schmettert Kurt Röthlisbergers Rekurs im April 1997 ab: Der ehemalige Spitzenschiedsrichter wird auch in zweiter Instanz der versuchten Bestechung im Champions-League-Spiel GC - Auxerre für schuldig erklärt. Er bleibt lebenslänglich gesperrt für alle Tätigkeiten im Fussballverband.