Interview mit Xhaka-Kritikerin
«Ich habe tausende Drohungen erhalten, aus ganz Europa»
Zana Avdiu, bekannteste Feministin des Kosovo, missbilligte Granit Xhakas Griff in den Schritt während des Spiels Schweiz gegen Serbien. Daraufhin wurde sie von dessen Vater live am Fernsehen bedroht – und braucht seither Polizeischutz.
Bettina Weber
Publiziert am 10. Dezember 2022 um 19:56 Uhr
Feministin Zana Avdiu: Lässt sich den Mund nicht verbieten.
Foto: PD
Letzte Woche war Zana Avdiu die meistkommentierte Person des Kosovo. Avdiu, bekannte Feministin und Menschenrechtsaktivistin, hatte in einem Facebook-Post Granit Xhakas Griff in den Schritt während des WM-Spiels Serbien-Schweiz scharf verurteilt. Sie warf ihm vor, ein «Strassenjunge» zu sein und dass er mit einer solch niveaulosen Geste eine schlechte Visitenkarte für sein Herkunftsland sei. Und sie fragte ihre Landsleute: «Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn wir so was seit Tagen bejubeln?»
Am selben Abend war die 29-Jährige in der Sport-Talk-Show des Senders T7 geladen, wo ebenfalls über den Zwischenfall diskutiert wurde. Avdiu war nicht nur die einzige Frau in einer Männerrunde, sie hielt auch unverrückbar an ihrer Meinung fest. Dann schaltete sich telefonisch der Vater von Granit Xhaka, Ragip Xhaka, in die Sendung ein.
Sie lasse sich von Serbien bezahlen, ist noch der harmloseste Vorwurf
Wie das Video zeigt, war er ausser sich, warf Zana Avdiu vor, ihn, seinen Sohn, ja die ganze Familie Xhaka beleidigt zu haben. Am Schluss warnte er sie, sie solle «aufpassen», was sie über die Familie Xhaka schreibe. Auf die Frage von Zana Avdiu: «Sonst passiert was?», gab Ragip Xhaka zurück: «Ich erzähle dir nachher, was passiert. Du wirst dich in jeder Hinsicht verantworten müssen. Aber wenn es so weit ist, wird es schon zu spät sein, das garantiere ich dir mit meinem Leben. Denn du kennst die Familie Xhaka nicht.»
In den darauffolgenden Tagen steigerte sich der Traffic auf Zana Avdius Facebook-Seite um mehr als 700 Prozent. Sie erhielt 11’000 Kommentare; in den harmlosen wird ihr vorgeworfen, von den Serben bezahlt zu sein. Die weniger harmlosen sind deutlich in der Überzahl, und darin schildern ausnahmslos Männer ihre mitunter brutalen Gewaltfantasien, die sie an der Juristin ausleben wollen. Zana Avdiu steht mittlerweile unter Polizeischutz, mehrere Männer wurden verhaftet.
Was störte Sie an Granit Xhakas Griff in den Schritt im Match gegen Serbien?
Zunächst: Ich kenne Granit Xhaka nicht. Und ich habe nichts gegen ihn persönlich. Aber ich habe etwas gegen diese Geste, denn sie ist sexistisch. Und ich habe auch etwas dagegen, dass ein grosser Teil der kosovarischen Gesellschaft diese Geste gutheisst, ja sogar bejubelt.
«Gewalt gegen Frauen ist im Kosovo weitverbreitet und akzeptiert.»
Was stört Sie daran?
Die Geste symbolisiert sexuelle Gewalt und den Stolz und die Macht, die Männer aufgrund ihres Penis empfinden. Es geht dabei nicht um Granit Xhaka. Sondern um das Phänomen, hinter dem eine Haltung steht, und diese wiederum hat Folgen, zum Beispiel Vergewaltigungen. Oder dass weibliche Föten in grosser Zahl abgetrieben werden, weil Mädchen als weniger wert gelten. Dieses Denken und die daraus resultierende Gewalt gegen Frauen sind im Kosovo allgemein verbreitet und akzeptiert – 68 Prozent der Kosovarinnen erleben Gewalt, auch viele meiner Freundinnen. Darauf habe ich mit meiner Kritik reagiert. Und darauf, dass so viele nichts dabei finden. Es ging und geht mir um den Zusammenhang.
Die umstrittene Szene: Granit Xhaka greift sich nach Provokationen von serbischer Seite in den Schritt.
Foto: Screenshot SRF
Ragip Xhaka hat seine heftige Reaktion mit dem Krieg erklärt. Verstehen Sie das?
Nein. Seine Reaktion ist nicht nachvollziehbar. Er scheint auch nicht zu verstehen, worum es geht. Zudem: Auch meine Familie litt im Krieg. Aber ich bin eine junge Frau und Feministin, er ist ein Mann und der Vater eines wohlhabenden Fussballspielers. Er denkt, seine Stellung gebe ihm das Recht, mir gegenüber derart aufzutreten. Herr Xhaka, der den Krieg aus der Ferne in der Schweiz erlebt hat, will mir, die ich den Krieg im Kosovo in seiner ganzen Brutalität erlebt habe, erklären, was Krieg bedeutet oder mit einem macht.
Die Furchtlose
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Hat Herr Xhaka Sie nach der Sendung weiter bedroht, wie er es angedeutet hatte?
Nein, er hat mich danach nicht kontaktiert. Aber sein anderer Sohn Taulant (Spieler beim FC Basel, Anm. d. Red.) hat auf seinem Instagram-Profil die bizarre Aussage über mich gepostet: «Schande, du hast überhaupt kein albanisches Blut.»
Granit Xhakas Bruder Taulant spricht Zana Avdiu auf Instagram ab, Albanerin zu sein.
Foto: Screenshot Instagram
Hatten Sie Angst?
Wie in der Sendung zu sehen war: Nein. Aber nun wollen mich andere mit Drohungen einschüchtern und zum Schweigen bringen. Was ich sage, passt sehr vielen Männern nicht.
«Die Männer fühlen sich derart im Recht, dass sie mir unter ihrem echten Facebook-Profil sexuelle Gewalt androhen.»
Was heisst das genau?
Ich brauche Polizeischutz. Seit Sonntagabend war ich nicht mehr draussen – mein Bewegungsradius ist so eingeschränkt, dass ich nur zur Arbeit und danach sofort wieder nach Hause gehe. Abertausende von sexistischen Nachrichten fluteten meine sozialen Netzwerke, nicht nur aus dem Kosovo, sondern aus ganz Europa. Bis jetzt sind es 11’000; darunter waren viele konkrete Drohungen gegen mich und meine Familie, auch meine Anwältin ist betroffen. Es heisst, man sollte mich töten, ich solle nach Serbien auswandern, man sollte mich vergewaltigen. In 200 Fällen habe ich Anzeige erstattet, es gab bereits mehrere Verhaftungen.
Wer bedroht und beschimpft Sie?
Ganz gewöhnliche Männer, darunter viele junge. Sie tun das nicht einmal anonym, sondern fühlen sich derart im Recht, dass sie mir unter ihrem echten Facebook-Profil sexuelle Gewalt androhen.
Sexuelle Gewalt wird als Kriegswaffe eingesetzt, auch im Kosovokrieg war das der Fall. Warum drohen Männer damit, obschon viele Menschen – eventuell gar in der eigenen Familie – darunter gelitten haben?
Während des Kosovo-Krieges wurden 20’000 Frauen vergewaltigt. Die Drohung, Müttern, Schwestern oder Partnerinnen dasselbe anzutun, erhält die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern am Leben: Der Mann prahlt damit, die Frau wird dadurch entehrt.
Wie erklären Sie sich, dass sich vor allem junge Männer an Ihren Aussagen stören?
Es gibt in unserer Gesellschaft keinen grossen Unterschied zwischen den Generationen, was die Haltung Frauen gegenüber angeht. Leider halten auch junge Menschen nach wie vor wenig von Gleichberechtigung. Sie sind geprägt von der traditionell patriarchalischen Kultur, schlechter Bildung und schlechten wirtschaftlichen Bedingungen. Diese drei Faktoren verhindern, dass sich eine Gesellschaft in eine fortschrittlichere Richtung entwickeln kann.
«Das Gefühl, Macht zu verlieren, macht viele Männer aggressiv: Das sieht man daran, dass die Zahl der Vergewaltigungen und Morde an Frauen gestiegen ist.»
Aber warum diese Heftigkeit?
Nach dem Kosovo-Krieg haben sich die Dinge für die Frauen radikal verändert. Westliche Länder und Nichtregierungsorganisationen schärften das Bewusstsein für die Gleichberechtigung, und die Frauen fingen an, für ihre Rechte zu kämpfen. Die stärkere Emanzipation von Mädchen und Frauen im Vergleich zu Männern spiegelt sich in Scheidungen und Trennungen von Paaren wider, die von Jahr zu Jahr zunehmen. Das Gefühl, Macht zu verlieren, macht viele Männer aggressiv: Das sieht man daran, dass die Zahl der Vergewaltigungen und Morde an Frauen gestiegen ist. Aber: Auch der Widerstand hat stark zugenommen.
Immer als Feministin aktiv: Zana Avdiu ist regelmässig im kosovarischen Fernsehen zu sehen.
Foto: PD
Wie wurde #MeToo im Kosovo aufgenommen?
Die #MeToo-Kampagne gilt allgemein als Teil der vierten Welle des Feminismus. Wir im Kosovo befinden uns indes erst in der ersten Welle. Hier werden immer noch die Opfer sexueller Gewalt beschämt oder bedroht, wenn sie sich dazu äussern, während die Täter nichts zu befürchten haben. Frauen zeigen erlebte Gewalt deshalb kaum je an. Und das Wort Feministin gibt es schon gar nicht.
«Die Kritik an einer Kultur, in der Jungen alles und Mädchen nichts sind, ist nicht rassistisch.»
Wie meinen Sie das?
Der Begriff ist nicht nur in der breiten Öffentlichkeit unbekannt, sondern auch die politischen Eliten und die Mitglieder des öffentlichen Lebens kennen ihn kaum. Und wenn, haben sie ihn falsch verstanden und behaupten, Feministinnen würden Männer hassen.
Was ist das grösste Problem albanischer Frauen?
Dass sie keine Arbeit haben, kaum Eigentum besitzen und fast immer von Erbschaften ausgeschlossen sind. In albanischen Familien erben nur vier Prozent der Mädchen, und nur 17 Prozent der Frauen besitzen Eigentum. Von den 600’000 Frauen im erwerbsfähigen Alter arbeiten nur etwa 14 Prozent. Das alles sind direkte Folgen der patriarchalischen Gesellschaft.
«Als Kind wunderte ich mich: Wenn wir als Albaner Freiheit und Gleichheit haben wollen – warum sollte das nur für Buben und Männer gelten, nicht aber für Mädchen und Frauen?»
In der Schweiz gibt es eine grosse albanische Diaspora – dass dort häufig ein konservatives Frauenbild dominiert, wird nur ungern angesprochen, man will sich nicht dem Vorwurf des Rassismus aussetzen. Wie soll man das Problem angehen?
Wir im Kosovo beschäftigen uns seit einigen Jahren mit der albanischen Diaspora, weil wir glauben, dass es dort mancherorts paradoxerweise sogar noch schlechter um die Gleichstellung steht als zum Beispiel in Pristina. Die Kritik an einer Kultur, in der Jungen alles und Mädchen nichts sind, ist nicht rassistisch. Diese Kritik ist vielmehr nötig, um Frauen ihre Rechte und ihre Freiheit garantieren zu können.
Sie haben eine schlimme Woche hinter sich. Aber Sie kämpfen schon lange für Frauenrechte. Woher nehmen Sie Ihren Mut?
Für mich ist das Wichtigste im Leben die Freiheit. Ohne sie ist ein Leben für mich unvorstellbar. Und ich glaube an die Gleichheit der Menschen, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit. Ich bin Feministin, wann und wo immer ich kann, der Aktivismus gehört zu meinem Alltag. Die Bücher der Autorin Sarah Ahmed haben mich massgeblich beeinflusst. Zum einen ihre Theorie «Feminist Killjoy», also den Mut zu haben, eine Spassverderberin zu sein und nicht mitzulachen, wenn jemand einen sexistischen Witz macht, oder zu widersprechen, wenn jemand abschätzig über Frauen spricht. Und zum anderen «Living a Feminist Life»: Das versuche ich umzusetzen, indem ich regelmässig in der politischen Diskussionssendung «Pressing» mitdiskutiere und dabei einen klar feministischen Standpunkt vertrete. Auf diese Weise kann ich die Debatte mitprägen. Aber ein Stück weit hat mich auch der Krieg zur Feministin gemacht.
Wie meinen Sie das?
Als Kind wunderte ich mich: Wenn wir als Albaner Freiheit und Gleichheit haben wollen – warum sollte das nur für Buben und Männer gelten, nicht aber für Mädchen und Frauen? Und wenn das in anderen Ländern erreicht wurde, warum dann nicht im Kosovo?
Die Familie Xhaka wollte auf Anfrage keine Stellung beziehen.