Beitragvon Simon Le Bon » 23.01.24 @ 20:54
Harte Strafen, frustrierte Anhänger
So kommt es zur Eskalation zwischen Fankurven und Politik
In Zürich bleibt die Südkurve zu, in Bern die Ostkurve. Die Behörden reagieren auf Fangewalt immer häufiger mit der Kollektivstrafe. Und die Wissenschaft bezweifelt, dass die Massnahmen zu sicheren Spielen führen.
Fabian SanginesFlorian Raz
Florian Raz, Fabian Sangines
Publiziert heute um 17:00 Uhr
Wird beim kommenden FCZ-Heimspiel gegen Lausanne-Sport leerbleiben: Die Südkurve im Letzigrund.
Foto: Freshfocus
Die Clubs sind frustriert, die Fans protestieren – dass in Schweizer Fussballstadien viele für das Fehlverhalten einzelner bestraft werden, kommt seit rund einem Jahr immer wieder vor. Beim kommenden Heimspiel des FC Zürich gegen Lausanne-Sport am 31. Januar bleibt im Letzigrund die Südkurve geschlossen, wie am Dienstag bekannt wurde. Am vergangenen Samstag waren beim Spiel zwischen YB und GC sowohl der Sektor der Gästefans sowie die Berner Ostkurve gesperrt.
Angeordnet hat diese Sperrungen nicht die Fussball-Liga, sondern die Politik. Sie reagiert damit auf Vorkommnisse ausserhalb der Stadien: YB-Anhänger hatten nach einem Spiel bei GC einen Bus demoliert und einen Busfahrer schwer bedroht, Anhänger des FCZ hatten am Sonntag nach dem Spiel gegen den FC Basel erst gegnerische Fans und dann die Polizei am Bahnhof Altstetten attackiert.
Eine Baslerin prescht vor
Die konsequente Sperrung von Fankurven durch die Behörden ist in der Schweiz ein junges Phänomen. Es war die basel-städtische Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann, die im letzten April praktisch im Alleingang diesen neuen Umgang mit Fangewalt einführte. Nach einem gravierenden Angriff aus der Basler Kurve auf Sicherheitspersonal schloss sie für das Spiel FCB gegen YB nicht nur die heimische Fankurve, sondern auch die Berner.
Sie platzte damit mitten in einen Prozess, der schweizweit einheitliche Massnahmen bei Fangewalt einführen wollte. Geplant ist ab Sommer 2024 ein sogenanntes «Kaskadenmodell», bei dem je nach Schwere der Vorkommnisse von Behördenseite her festgeschriebene Schritte ergriffen werden. Die reichen von einer Warnung bis hin zu einem Spielverbot. Das Ganze sollte die Auflagen für alle Seiten nachvollziehbar machen – und so für mehr Akzeptanz sorgen. Das Projekt trägt den Namen «Progresso».
Hat praktisch im Alleingang einen neuen Umgang mit Fangewalt eingeführt: Die basel-städtische Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann.
Hat praktisch im Alleingang einen neuen Umgang mit Fangewalt eingeführt: Die basel-städtische Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann.
Foto: Georgios Kefalas
Seit Eymanns Vorpreschen ist es aber vorbei mit klar definierten Schritten, die auf ebenso klar umschriebene Verstösse folgen. Andere Sicherheitsbehörden haben ihr hartes Vorgehen zum Vorbild genommen – und sind ihr rasch gefolgt. So kam es zu Sektorsperrungen in Sitten, Luzern, St. Gallen, jetzt Bern und demnächst in Zürich, Genf und Lausanne. Die Stufen, die laut Kaskadenmodell vor dem Ausschluss von Fans kommen sollten, wurden dabei mehrfach übersprungen.
Beschlossen werden diese Massnahmen in einer «Arbeitsgruppe Bewilligungsbehörden». Faktisch ist das eine nach Vorkommnissen einberufene Videokonferenz aller Stellen, die in der Schweiz professionelle Fussballspiele bewilligen – also kantonale oder städtische Behörden.
Von «wenig zielführend» bis «chaotisch»
Ein Problem dabei ist, dass sich derzeit selbst die Behörden und Politikerinnen untereinander kaum einig sind, was als schweres Vergehen zu gelten hat. Und wie genau vorgegangen werden soll. Diese Readktion hat mit mehreren Personen gesprochen, die Zeugen solcher Videocalls waren. Ihre Beschreibungen gehen von «wenig zielführend» über «schulmeisterlich» bis hin zu «deprimierend», «amateurhaft» oder «chaotisch».
Ab Sommer sollen die Strukturen klarer und die Sitzungen geordneter werden. Momentan aber geben die Hardliner in diesem noch recht ungeordneten Gremium die Richtung vor. Was auch an den Westschweizer Kantonen liegt, die vehement für eine Politik der harten Hand plädieren.
Kollektivstrafen als Ohnmachtszeugnis
Die Swiss Football League sieht die verschärften Massnahmen kritisch, hat aber kein Mitspracherecht. Liga-CEO Claudius Schäfer sagt: «Für uns steht die Einzeltäterverfolgung im Vordergrund. Wer eine Gewalttat begeht, soll bestraft werden. Kollektivstrafen sind dagegen auch immer ein Ohnmachtszeugnis.»
Tatsächlich werden mit den gesperrten Sektoren viele Menschen bestraft, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Wie die vielen Tausend Berner Heimfans, die an diesem Samstag für Taten büssen müssen, die eine Gruppe von Auswärtsfans in Zürich begangen hat.
Für die Polizeibehörden haben solche kollektiven Repressalien einen grossen Vorteil: Einzelne Gewalttäter zu identifizieren und strafrechtlich zu verfolgen, bedeutet Aufwand. Gerade in einer Fankurve, in der sich alle gleich kleiden, um möglichst unerkannt zu bleiben. Da ist es viel einfacher, nach einem Vorfall gleich einen ganzen Stadionsektor zu sperren.
Alain Brechbühl sieht allerdings auch Probleme in diesen Gruppenbestrafungen. Er begleitet das Projekt «Progresso» als Leiter der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen der Uni Bern. Brechbühl sagt: «Die Forschung zeigt recht eindeutig, dass Kollektivsanktionen zu einer Solidarisierung innerhalb der betroffenen Gruppe führen, womit sich im schlimmsten Fall kontraproduktive Effekte ergeben können.»
Forscher Brechbühl sagt grundsätzlich: «Als Wissenschaftler zweifeln wir daran, dass das Kaskadenmodell die richtige Lösung ist.» Zumal er auch juristische Bedenken hat.
Das Hooligan-Konkordat als Fundament
Die Behörden stützen sich bei ihrem Vorgehen auf das Hooligan-Konkordat. Dieses ist laut Bundesgericht ein rein präventives Instrument, mit dem sichere Spiele gewährleistet werden sollen. «Mir erschliesst sich aber nicht, wie eine Sektorsperrung Taten verhindern soll, die ausserhalb des Stadions stattfinden», sagt Brechbühl. Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause betont demgegenüber, dass bei Gesprächen der verschiedenen Bewilligungsbehörden teilweise weitaus drastischere Massnahmen gefordert worden seien.
Klar ist, dass sich die Fronten derzeit verhärtet haben. Die diversen Fanarbeiten in den Städten der Super-League-Clubs machen bei der Ausarbeitung des Kaskadenmodells nicht mehr mit. Sie fühlen sich ebenso übergangen wie viele Clubs.
Paradox an der aktuellen Eskalation: Sie findet statt, obwohl es zuletzt rund um die Schweizer Fussballstadien so ruhig war wie selten. In der letzten Saison kam es zwar zu zwei besonders gravierenden Zwischenfällen. Aber laut den von Behörden, SBB und Clubs erhobenen Daten gab es letzte Saison elf sogenannte «rote Spiele» mit schweren Gewalttaten weniger als in der Vorsaison.
«Das ist die tiefste bisher erhobene Zahl an roten Spielen in der Super League seit dem Beginn der Statistik», sagt Alain Brechbühl. Und wundert sich: «Aber das ist eigentlich nirgends ein Thema.»