Beitragvon Simon Le Bon » 01.12.20 @ 6:26
Q: Tagi.ch
Sie nennen ihn auch mal Mourinho
Der Trainer ist mit Union im Hoch, gibt sich aber höchst bescheiden. Weil er sich schlecht verkaufen kann. Das geht aus einem neuen Buch hervor. Was sagt er?
Moritz Marthaler, Christian Zürcher
Publiziert: 30.11.2020, 20:30
«Er will und kann sich nicht verkaufen», sagt Urs Fischers Co-Trainer Markus Hoffmann über seinen Boss.
Foto: Guido Kirchner (Keystone)
Urs Fischer ist die Antithese eines Stars, spröde, knorrig, sehr bodenständig. Um Köpenick aber, bei Union Berlin, gilt er als Held, als grösster Stern des Vereins. Das erstaunt erst (spröde, knorrig, sehr bodenständig), wird aber bald plausibel, wenn man das Buch «Wir werden ewig leben» des Journalisten Christoph Biermann liest.
Ein Jahr lang hatte der Deutsche unbeschränkten Zugang zum Club. Er hat in der Kabine den Spielbesprechungen gelauscht. Er sass im Trainerbüro und hat mit Fischer nach Siegen Rum getrunken. Er war während der Corona-Krise in der Vorstandssitzung und lernte von Präsident Dirk Zingler den Grundsatz: «Bist du nicht flüssig, bist du überflüssig.» Liquidität ist das Wichtigste.
Urs Fischer kommt in diesem Buch gut weg. Sehr gut sogar. Der 54-Jährige ist darin ein moderner Trainer, ein Taktik-Nerd, der sich selbst nie so bezeichnen würde. Er delegiert und vertraut in ausserordentlichem Mass seinen Athletik-, Taktik- und Co-Trainern. Seine Spielbesprechungen folgen einem Plan, einer Storyline, die er seinen Spielern eine Woche lang einimpft. Und Fischer hat eine vorzügliche Menschenführung. Hart, aber fair. Er kann einem Spieler sagen, dass er einen «Dachschaden» habe – und ihn trotzdem mögen.
Rafal Gikiewicz, bis im Sommer Goalie bei Union Berlin, fasst das vielleicht am besten zusammen. Er sagt: «Ohne ihn ist diese Mannschaft null. Wenn du ihm ins Gesicht schaust, ist er im ersten Moment nicht so sympathisch. Aber er ist ein super Mensch. (...) Er ist der Architekt, im Spiel ohne Ball ist er so gut wie Guardiola oder Mourinho.»
Urs Fischer, Sie werden in Berlin ziemlich geschätzt. Und nun ist dieses Buch erschienen: Es ist ein Kompliment an Ihre Arbeit.
Das Buch ist ein Kompliment an alle in diesem Verein. Alles muss funktionieren, damit wir diese Leistungen erbringen können, nicht nur der Trainer. Ich bin als solcher halt eher exponiert. Es braucht so viel unter der Woche, das passen muss. Jeder trägt seinen Teil dazu bei.
Jeder Bundesliga-Sportchef, der dieses Buch liest, wird Sie doch auf seinen Zettel nehmen.
(lacht laut) Das weiss ich nicht, ob das jeder denkt. Aber ja, das Buch ist wirklich toll, weil es Einblicke gibt, die man sonst nicht bekommt. Meine Befürchtung war ja, dass eine Art Kamera-Effekt eintritt. Verstellen sich die Spieler, verstelle ich mich selber? Das hat nicht stattgefunden. Ich bin jetzt am Lesen und erhalte dabei eine ganz andere Sichtweise. Das hilft mir in meiner Entwicklung.
Ein dominierendes Thema im Buch sind Ihre Spielanalysen, sie funktionieren vorzüglich. Sie sagen aber auch: Ein Viertel der Mannschaft kapiert sie nicht, ein weiteres Viertel interessiert sich nicht dafür. Im Ernst?
Ach, ich war doch selber lange genug Spieler, um zu wissen, dass das so läuft. Aber es hat sich schon etwas getan. Bei uns legte man die VHS-Kassette ein, und dann wurde einfach das Spiel noch einmal geschaut, über die vollen 90 Minuten. Heute hält man normalerweise zwei bis drei Analysen. Sie sollten nicht länger als 20 bis 25 Minuten dauern.
Können Sie als Trainer etwas aus dem Buch für sich mitnehmen?
Interessanterweise hat genau dieser Teil des Buchs bei uns etwas ausgelöst: die Spielanalysen. Man wird daran erinnert, dass nicht immer alle alles verstehen. Also muss man nachfragen, nochmals erklären, individualisieren. Es nützt nichts, wenn du denkst, dass deine Spieler dich verstehen.
Fischers Prägung als Spieler bleibt ihm auch als Trainer erhalten. Ein Arbeiter, ein «Chrampfer», einer, der den einfachen Fussball pflegt. Selbst als er mit dem FC Basel Meistertitel und Cupsieg holt, bleibt der Ruf an ihm haften.
In Biermanns Buch bekommt der Zürcher eine neue Facette. Fischer weiss stets, welchen Fussball er spielen lassen muss, welches Spiel seiner Mannschaft liegt. Nach dem missratenen Saisonstart im Sommer 2019 erkennt Fischer, was das Problem ist – und ändert das System. Plötzlich läuft es. Biermann ist beeindruckt.
Auf Höhenflug
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Doch auch in Deutschland ist Fischer noch immer für viele der nette Schweizer mit dem lustigen Akzent. Sein Co-Trainer Markus Hoffmann sagt: «Er will und kann sich nicht verkaufen. Er will so bleiben, wie er ist.» Er ist das Gegenteil von eloquent, über seine Vorzüge spricht er nicht. Hoffmann frustriert das manchmal, weil er mitbekommt, wie Fischers Einfluss unterbewertet wird.
Als Sie nach Deutschland kamen, wurden Sie unterschätzt. Vielleicht noch immer.
(grinst)
Stört Sie das?
Glauben Sie nicht auch, dass das ein Kompliment sein könnte? Im Fussball ist es nicht unbedingt ein Nachteil, wenn man unterschätzt wird.
Das Buch trägt dazu bei, dass das nun weniger passiert. Ist das gut oder schlecht?
Darüber mache ich mir keine Gedanken. Diese Frage stellt sich nicht für mich.
Unter Ihnen hatte Union lange den Ruf, simplen Fussball zu spielen. Tut das weh?
Ich glaube, wir waren sehr erfolgreich in unserer ersten Bundesligasaison. Und schauen Sie sich Bayern München an, die spielen bei Bedarf auch mit langen Bällen hinter die Abwehr. Zu Beginn haben wir vielleicht öfter so gespielt, klar. Aber es half uns, stabiler zu werden und letzten Endes unsere Ziele zu erreichen.
Das Buch lesen natürlich auch Gegner. Haben Sie Angst, dass sich Ihr Stil abnutzt?
Ich denke, das tut er so oder so. Aber nicht nur mein Stil, sondern auch der von unserem Trainerteam. Je länger man zusammenarbeitet, umso mehr Abnutzung bringt das mit sich. Wir müssen uns ständig entwickeln und gleichzeitig gewissen Grundsätzen treu bleiben. Sonst wirkst du unter anderem nicht mehr authentisch.
Noch funktioniert er, der Stil Fischer. Sehr gut sogar. 16 Punkte hat Union in neun Runden gesammelt, einzig in der ersten Runde verloren, nur die Bayern haben mehr Tore erzielt. Es ist ein leichtfüssiger Auftakt in eine Saison, von der man sich unter Aufsteigern erzählt, dass sie noch viel schwieriger sei als die erste in einer neuen Liga.
Eine Storyline, die er seinen Spielern eine Woche lang einimpft: Im Buch «Wir werden ewig leben» wird Urs Fischers (Mitte) Spielvorbereitung in den höchsten Tönen gelobt.
Was den Verein Union Berlin aber wirklich trägt, sind seine Mitglieder. Der Club definiert sich stärker als andere über das Erlebnis Stadionbesuch, was in der aktuellen Krise die Gefahr eines Identitätsverlusts mit sich bringt. Gegen Sitzplätze wehrt man sich erfolgreich, noch immer bestehen drei Viertel des Stadions An der Alten Försterei aus Stehplätzen. Im Stadion soll gejubelt werden, Musik nach einem Tor gibt es nicht.
Urs Fischer hat das erkannt. Er tritt in den Dialog, auf einem Podium zur Saisoneröffnung, bei einem Schwatz im Trainingslager. Und obwohl ihm so ziemlich alles zu gelingen scheint in Berlin, obwohl er, zumindest von der Klassierung her, sogar auf Europacupkurs ist mit dem langjährigen Zweitligaverein, ist sein Vertrag vorläufig nur bis nächsten Sommer gültig.
Die Fans werden noch monatelang nicht ins Stadion kommen können. Wie haben Sie sich darauf eingestellt?
Gar nicht! Ich habe höchstens gelernt, damit klarzukommen.
Trotz allem Erfolg erhalten Sie bei Union recht knappe Zeithorizonte. Dank dem Aufstieg hat sich Ihr Vertrag verlängert, ist jetzt bis nächsten Sommer gültig. Wie empfinden Sie das?
Das ist Teil des Geschäfts. Das löst jetzt bei mir nicht viel aus. Als ich hier unterschrieben habe, habe ich einen Zweijahresvertrag mit Option unterschrieben. Das war doch fürs Erste ganz gut, man hat sich ein wenig abtasten können.
Also könnte man jetzt erneut verlängern.
Für mich stimmt es so, wie es jetzt ist. Über alles Weitere werden wir uns rechtzeitig unterhalten.
Und was entgegnen Sie Leuten, die Sie fragen, ob Sie jetzt in den Europacup wollen?
Ich kann mich mit dieser Frage abfinden. Man kann sie mir hundertmal stellen, muss jedoch hundertmal mit der Antwort rechnen, dass sie mich nicht interessiert.
Fischer ist ein Typ. Einer aber, der sehr ungern über sich spricht. Und was ebenfalls aus dem Buch herausgeht: Fischer raucht ziemlich viel. Er ist darob beim Lesen selbst erschrocken.