Beitragvon pepino_ » 06.07.18 @ 14:53
Die Deutschen haben zahlreiche Probleme, die hier teilweise auch schon angesprochen wurden. So z.B. div. Nebengeräusche im Vorfeld des Turniers ("Erdogate", Nichtnomination von Sané, Festhalten an Neuer als Nr. 1, Konflikte zwischen DFB und Klubs), überspielte, erfolgsverwöhnte und satte Spieler, eine zu einfache Quali-Gruppe, schwache WM-Vorbereitung, einen Trainerstaff, der auf all das keine Lösungen fand, nicht zuletzt aber auch Pech in spielentscheidenden Szenen.
Mein Punkt ist: Die von Scholl geschilderte Entwicklung ist nicht für das Ausscheiden der Deutschen verantwortlich. Löw hat seine Trainerlaufbahn vor über 20 Jahren angefangen hat, lange bevor es den von Scholl kritisierten Fussballlehrer-Lehrgang überhaupt gab. Er bedient sich heute zwar der neuesten technischen Hilfsmittel und hat auch entsprechende Leute im Staff, seine Prägung als Fussballer und Trainer hat er aber während einer ganz anderen Zeit erfahren als die sog. "Laptop-Trainer". Fakt ist auch, dass sich im WM Kader 2018 zahlreiche Spieler finden, welche die personifizierte Antithese der von Scholl beschriebenen "Systemfussballroboter" darstellen, denen Individualität/Kreativität/Spielfreude/Flair etc. von klein auf ausgetrieben wurde. Den Artikel kann man vielleicht wieder hervorkramen, wenn sich so etwas an der WM 2022 oder später wiederholt. Vielleicht passen seine bösen Vorahnungen dann zu Trainer und Kader - bei der WM 2018 tun sie das nicht.
Für die Deutschen mag das Ausscheiden in der Vorrunde vielleicht "ein blaues Wunder" sein, das hat aber v.a. mit dem deutschtypischen Selbstvertrauen zu tun, das ab und zu in Selbstüberschätzung umschlägt. Die Vorzeichen waren durchaus da - im Nachhinein lässt sich das immer einfach sagen - mit einem Vorrunden-Aus hätte ich aber auch nicht gerechnet.
Zum "Favoritensterben": Die WM ist ein Cup-Wettbewerb, 1-2 schlechte Spiele in der Vorrunde reichen, später auch eine schwache Halbzeit. Man sieht das auch immer wieder auf Klubebene, Liga und Cup sind zwei verschiedene Welten. In solchen Cup-Wettbewerben spielt der Druck eine viel grössere Rolle, die "Kleinen" können nur gewinnen, die "Grossen" haben viel zu verlieren, man hat das auch immer wieder in der Spielanlage an der WM 2018 gesehen. Dazu kommt, dass es im Weltfussball frei nach Völler und Vogts keine "Kleinen" mehr gibt - zumindest in Europa und Südamerika. Die Leistungsdichte ist extrem hoch, die meisten Spieler verdienen ihr Geld ebenfalls in Topligen. Allfällige Defizite werden mit Moral, Laufbereitschaft, Leidenschaft usw. wettgemacht. Jeder der selber Spieler/Trainer ist/war, kennt das: Man kann auf jeder Position besser besetzt sein, einen Lauf haben, den Gegner während der ganzen Spielzeit an die Wand spielen und dann trotzdem gegen Abstiegskandidaten oder Unterklassige verlieren. Für mich gleichzeitig das Schlimmste und Schönste an diesem Sport.
Mit destruktivem Fussball kann man an einer WM respektable Resultate erzielen (Australien, Island, Iran), allenfalls sogar weiterkommen (Dänemark, Russland, Schweden, Schweiz), in einer Liga würde man damit keinen Blumentopf gewinnen. Ich behaupte: Gäbe es Hin- und Rückspiele, dann hätten sich Spanien und Deutschland ebenfalls durchgesetzt. Im Viertelfinal wäre aber Schluss gewesen, beide Teams waren wegen div. Nebenschauplätzen nicht bei der Sache und haben ihren Zenit überschritten.
On any given Sunday you're gonna win or you're gonna lose. The point is - can you win or lose like a man? - Al Pacino as Tony D'Amato, Any given Sunday (1999)