gelbeseite hat geschrieben:Frage an die Experten: Gibt es nicht ohnehin eine Verschiebung dahin, dass europaweit die U19 der Standard für die grössten Jugendtalente wird? Bei den Frauen führt man ja bereits keine U21 mehr, oder?
Es ist eher so, dass die Integration von U21-/U23-/Reserve-Teams in den regulären Spielbetrieb europaweit zunimmt. Die Schweiz war diesbezüglich einer der Vorreiter und hatte dadurch in der Talententwicklung eine Zeit lang (und teilweise immer noch) Vorteile gegenüber vielen Ländern. Italien hat dies zum Beispiel erst 2018 (wieder) eingeführt.
Die Frage ist, auf welcher Stufe diese Teams spielen sollen. In Deutschland sind es U23-Teams mit grösstenteils Spielern, die nie für die 1. Mannschaft in Frage kommen. Man leistet sich fast ein ganzes Zweitteam, um die U23 in einer bestimmten Liga (3. Liga, Regionalliga) zu halten. Da wird dann in den verschiedensten Klubs immer wieder die Sinnfrage gestellt. Frankfurt, Leverkusen oder Leipzig haben daher ihre U23 aufgelöst. Ingolstadt spielt als m.W. einziger Klub in Deutschland mit einer reinen U21 und daher in der fünftklassigen Bayernliga.
Hier ein Kommentar dazu von Rudi Völler (Leverkusen): Bayer Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler (Foto) hat die Abschaffung der zweiten Mannschaft des Klubs nachträglich als richtige Entscheidung bezeichnet. „Es hat für uns absolut Sinn ergeben, so zu handeln“, sagte Völler im Interview der „Stuttgarter Zeitung“ und der „Stuttgarter Nachrichten“. Leverkusen hatte zur Saison 2014/15 als erster Bundesligist seine Reserve vom Spielbetrieb abgemeldet. Bei Bayer hätten damals „vielleicht zwei hochtalentierte Spieler“ in einer zweiten Mannschaft mit über 20 Jungs gespielt, so Völler. „Das war uns die Sache nicht mehr wert“, begründete der 57-Jährige den Schritt.
https://www.transfermarkt.de/voller-ver ... ews/294921U21-Teams machen aus meiner Sicht viel Sinn, aber nicht, wenn man sie mit einer Armada von Verstärkungsspielern unbedingt auf einer gewissen Stufe halten will / muss. Eine U21 sollte ganz oder zumindest fast ganz aus Talenten bestehen, die grundsätzlich die Perspektive 1. Mannschaft haben. Dies kann dann eben bedeuten, dass sie in der 1. Liga spielt und nicht in der Promotion League. Ob und wie es Sinn macht, ist von Land zu Land und sogar von Klub zu Klub unterschiedlich einzuschätzen. Ob der Anspruch ist, möglichst viele Talente für ein ambitioniertes Super League-Mittelfeldteam wie den FC Zürich auszubilden oder für ein Team der erweiterten europäischen Spitze wie Bayer Leverkusen ist ein Riesenunterschied. Wichtig für die Einschätzung der Situation ist auch das Niveau der unteren Ligen im jeweiligen Land. Ist das Niveau der unteren Ligen so hoch wie in Deutschland, kann es u.U. sinnlos werden den Riesenaufwand für ein Reserveteam zu betreiben. In der Schweiz funktioniert es hingegen gut.
Der FCZ hatte früher jeweils einen routinierten Spieler um die 30, dem es für die Super League nicht mehr reicht und der motiviert ist, in der U21 eine Leaderrolle zu übernehmen. Florian Stahel, Polo Büchel oder Roberto Rodriguez waren solche Beispiele. Marc Hornschuh macht dasselbe beim SC Freiburg. Später hatte man auch einzelne Spieler um die 23 Jahre für die Defensivzentrale: Genis Montolio oder Mathis Holcbecher. Das war das Profil eines Spielers, der nicht die Anlagen hatte, direkt von der U21 aus sich für die Super League-Mannschaft zu empfehlen, sondern den Schritt FCZ U21 nutzen kann, um kontinuierlich vorwärts zu kommen und den nächsten Schritt in die Challenge League zu schaffen. Montolio ist via Wil mittlerweile Stammspieler beim FC Thun und könnte diesen Sommer in die Super League aufsteigen. Dazu hatte man ab und zu ähnliche Profile auch als Torjäger im Sturm: Shpetim Sulejmani, Nenad Zivkovic, Nicolas Andereggen oder Yann Kasai. Einer, der die U21 mit seinen Toren in der Promotion League halten kann und sich für die Challenge League oder ähnliche Levels im Ausland empfehlen will.
Neu seit dieser Saison ist beim FCZ das Konzept, günstige Jungprofis um die 20/21 Jahre zu verpflichten, die eine zweite Chance suchen. Es sind Profile von Spielern, die bei guter Entwicklung auch relativ rasch den Sprung direkt von der U21 in die Super League-Mannschaft schaffen können. Markelo, Reverson, Mahmoud und Nvendo hatten bereits relativ rasch ihre Einsätze im Eins. Bei Ihendu, Isaiah Okafor oder Vukelic könnte es noch dazu kommen. Bei Turping und Eraslan hingegen kaum. Rein nur von der individuellen Qualität her müsste das natürlich reichen, um in der Promotion League zu bleiben. Was ein solches Unterfangen schwierig macht sind wie erwähnt die laufend wechselnden Startformationen. Falls die U21 absteigt, würde vermutlich der Anteil dieser "Zweite Chance-Talente* reduziert werden, weil es wohl schwieriger würde, wirklich interessante Kandidaten dieses Profils zu verpflichten. Das Niveau in der 1. Liga ist dann schon einiges tiefer. Dafür könnten in der 1. Liga eigene weit entwickelte Talente wie ein Mahar oder Munroe schon mit 16 Jahren Stammspieler und sogar Leistungsträger werden sowie Erfolgserlebnisse in Form von Skorerpunkten sammeln. Wie Turhan diese Saison bei GC.
In Österreich sind Reserve-Teams bis in die zweithöchste Liga hinauf zugelassen. Aber diese haben haben Mühe, sich in dieser Liga zu halten. Rapid oder Austria müssen im Kampf um den Klassenerhalt die halbe Mannschaft mit zugekauften Spielern besetzen. Und all dies um vielleicht zwei oder drei echten Talenten Spielzeit auf dieser Stufe zu ermöglichen. Das könnte man viel eleganter mit Leihen lösen, wie das in der Schweiz beispielsweise der FCZ seit Jahren praktiziert.
Das Problem mit Leihen in Österreich ist, dass aufgrund der Ligavergrösserungen die 2. Liga weitgehend zu einer Amateurliga verkommen ist, wo dementsprechend Amateurbedingungen herrschen. Zu solchen Klubs leiht man dann nicht mehr gerne Talente aus. In der Schweiz herrschen hingegen dank der kleineren 10er-Liga bei Klubs wie dem FC Wil weiterhin Profibedingungen. Krasniqi, Kamberi, Brecher oder Kryeziu haben davon profitiert. Der einzige Klub, der in Österreich eine echte U21 in der zweithöchsten Liga betreiben kann, ist RB Salzburg mit Liefering. Dies funktioniert aber nur weil Salzburg eine der besten Jugendakademien weltweit hat und aus vieler Herren Länder die besten Talente rekrutiert.
In der Schweiz wurde von U18 auf U19 umgestellt, weil man den Sprung in die U21 als zu gross erachtete. In diesem Punkt hat sich die Schweiz den anderen Ländern angepasst. Bei den Reserve-Teams war es wie erwähnt eher umgekehrt. Dies ist aber sowieso eher für die "Breite der Spitze" oder Spätzünder relevant. Die grössten Talente spielen mit 15 in der U19, mit 16 in der U21, werden allenfalls mit 17 ein halbes Jahr in die Challenge League ausgeliehen und gehören dann mit 17 oder 18 zum fixen 18 Mann-Matchkader in der Super League oder sind gar Stammspieler.
Eine U21 hatte bei den Frauen in der Schweiz einzig der FC Zürich. Es war Teil des besonderen Engagements für die Nachwuchsförderung. Da das Leistungsgefälle bei den Frauen viel grösser ist als bei den Männern, konnte diese U21 ein Jahrzehnt lang locker an der Spitze der Nationalliga B mithalten und hätte einige Male in die höchste Liga aufsteigen können, wenn sie gedurft hätte. Und dies jeweils mit maximal einer etwas älteren Verstärkungsspielerin (lange Zeit Raika Toper). Dies war eine sehr gute Sache. Grosse Talente wie Sydney Schertenleib (gilt aktuell als eines der zehn grössten Talente weltweit!) haben vom Sprungbrett U21 in ihrer Entwicklung profitiert. Schertenleib ist ja eine Absolventin der FCZ-Juniorenabteilung (nicht Juniorinnen), so wie ein Nico Elvedi oder Ricardo Rodriguez. Sie war bis zur U15 bei den Jungs und hat dann mit 15 Jahren direkt zu den Frauen gewechselt mit langen Einsätzen in der U21 und parallel einzelnen Kurzeinsatzen in der Women's Super League (und dazu noch mit den U16-Jungs trainiert). Sie ist ein Beispiel dafür, was der FCZ jetzt auch bei den Jungs macht: die Talente flexibel immer auf der höchsten sinnvollen Stufe einsetzen.
Viele Spielerinnen der aktuellen Mannschaft (u.a. die aktuell beste FCZ-Torschützin Sanja Kovacevic) sind letzten Sommer von der aufgelösten U21 in die 1. Mannschaft gewechselt. Aufgelöst wurde sie, weil der SFV bei den Frauen neu eine U20-Liga (an Stelle der U19) eingeführt hat. Ich fände es gut, wenn bei den Frauen mittelfristig so etwas wie eine U21 wieder möglich wäre. Wenn Mädels schon früh kompetitiv gegen Frauen spielen können, hat dies sicherlich einen ähnlich positiven Effekt wie bei den Jungs.